Als Opferstock bezeichnet man ein verschlossenes Sammelgefäß aus Holz, Eisen oder Stein, mit einer Öffnung für den Einwurf von Münzen. Als „Stock“ wird er bezeichnet, weil Opferstöcke ursprünglich oft aus ausgehöhlten Baumstämmen gefertigt und mit Eisenbändern verstärkt waren.[1] Es gibt bis heute viele unterschiedliche Bezeichnungen für Opferstöcke, unter anderem Kirchenkasten, Armenblock, Opfertruhe oder Gotteskasten.[2]
Das Objekt
Inventarnummern: Opferstock 1170, Eisentafel 5162
Standort: 1. Stock
Maße: Opferstock 47 x 47 x 89 cm, Tafel 24 x 20 cm
Objektbeschreibung
Im ersten Stockwerk der Schell Collection befindet sich unauffällig an einer Wand stehend ein steinerner Kasten mit eisernem Aufsatz. Es handelt sich dabei um einen Opferstock aus rötlichem Marmorgestein. Er stammt vermutlich aus dem 18., wenn nicht sogar aus dem späten 17. Jahrhundert und ist bar jeder Dekoration. An der Vorderseite ist ein Teil des Gesteins herausgebrochen. Mit zwei Scharnieren ist eine schlichte Klappe aus schwerem Schmiedeeisen mit einer Öffnung für den Einwurf von Münzen auf dem Opferstock angebracht. Verschlossen wurde diese durch eine lange Überfalle und ein Vorhangschloss, welches nicht original erhalten ist. Der steinerne Opferstock stammt aus der Gemeinde Aflenz in der Obersteiermark und hat Mitte der 1980er Jahre durch eine Schenkung seinen Weg in die Schell Collection gefunden. Davor hat er sich lange Zeit neben der Aflenzer Pfarrkirche befunden, die im frühen 16. Jahrhundert fertiggestellt wurde.
Die Anekdote dazu ist sehr unterhaltsam: Mitte der 1980er Jahre hat der ehemalige Werbeleiter der Firma Odörfer-Eisenhof und erste Direktor der Schell Collection, Prof. Albert Berger, in der Wiese neben der Aflenzer Pfarrkirche ein Stück rötlichen Marmor aus der Erde ragen sehen. Er fragte den örtlichen Pfarrer, ob er dieses Stück Marmor ausgraben dürfe. Der Pfarrer hat ihm seine Zustimmung gegeben und meinte, Herr Berger könnte haben, was auch immer er dort ausgräbt. Es handelte sich dabei um diesen schönen, marmornen Opferstock.
Über dem Opferstock ist in der Ausstellung eine kleine Tafel aus Gusseisen montiert, die vermutlich im 19. Jahrhundert hergestellt wurde. Sie ist symmetrisch konvex geformt und rundum durch Ornamente gerahmt sowie mit kleinen Rocaillen geschmückt. In der Mitte befindet sich der Spruch: „Wer nicht opfert der wird kropfert!“. Die Bemalung stammt aus dem 20. Jahrhundert. Die Tafel kam nicht mit dem Aflenzer Opferstock in die Schell Collection, sondern wurde hier im Haus dekorativ dazu gehängt. Derartige Tafeln konnte es in Kirchen allerdings geben, um die Bevölkerung nachdrücklich zum Almosengeben aufzufordern.
Was bedeutet dieser vielsagende Spruch aber? Und wieso sollte so eine Tafel bei einem Opferstock angebracht werden?
Opferstöcke
Armenfürsorge war seit dem Altertum stark mit Religion verknüpft und meist an Tempel oder Kirchen gebunden. Im antiken Griechenland sowie später in Rom gab es neben den Tempeln Opferstöcke. Auch im Tempel von Jerusalem soll ein Opferstock gestanden haben, um für die Bedürftigen zu sammeln.[3]
Spenden wurden früher Almosen genannt. Der Begriff leitet sich vom griechischen ἐλεημοσύνη (eleemosyne) ab und bedeutet Mildtätigkeit, also Wohltätigkeit. Es ist in allen Religionen vorgesehen, wohltätig für die Armen zu handeln. Im Christentum war Wohltätigkeit lange damit verbunden, die eigene Seele vor dem Fegefeuer freizukaufen und den bereits Verstorbenen dabei behilflich zu sein, weniger Zeit im Fegefeuer verbringen zu müssen. Zudem wurde der soziale Frieden gewahrt, wohlhabendere Menschen zeigten Solidarität zu Bedürftigen und konnten ihr eigenes Gewissen beruhigen.[4] Im Mittelalter sah man Armut als gottgegeben an. Man wollte sie also nicht beseitigen, weil die Armen, welche die Empfänger der Almosen waren, für das Seelenheil der wohlhabenderen Almosengeber beten sollten. Aufgabe der Kirche mit den Opferstöcken war es, diese Almosen gerecht zu verteilen.[5]
Bis heute hat normalerweise jede Kirche, unabhängig davon, ob es sich um ein katholisches oder evangelisches Gotteshaus handelt, einen Opferstock vor dem Portal oder innerhalb des Gebäudes, um für Bedürftige zu sammeln. Diese Opferstöcke sind meist sehr dezent oder gar nicht künstlerisch gestaltet. Um nicht von etwaigen Dieben entleert zu werden, mussten Opferstöcke robust und wehrhaft gestaltet sein. Deshalb waren sie oft aus Stein, wenn sie vor den Kirchen standen und aus Eisen oder mit Eisen beschlagenem Holz, wenn sie in den Kirchen aufgestellt waren. In jedem Fall waren sie jedoch mit einem oder mehreren Vorhangschlössern versperrt.[6] Innerhalb der Kirchen befanden sich die Opferstöcke entweder beim Eingangsportal oder neben dem Altar. Zusätzlich stellte man bis in die Neuzeit auch Opferstöcke vor Kapellen, die in der Landschaft verteilt waren.[7]
Bei Katholiken kam das Geld, das durch Opferstöcke gesammelt wurde, auch der Kirche selbst und dem Pfarrer zu Gute. Erst bei den Protestanten wurde es Usus, dass das Geld in den Opferstöcken ausschließlich an die Bedürftigen verteilt wurde.[8]
Es war üblich, die Menschen mit Sprüchen zum Almosengeben zu motivieren. Bekannt war beispielsweise der deutsche Dominikanermönch Johannes Tetzel Mitte des 15. Jahrhunderts mit seiner Aussage: „Sobald der Gülden im Becken klingt, im huy die Seel in Himmel springt“ – oder auch: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“. Damit sammelte er Groschen für die Armen in seinen hölzernen und mit Eisen beschlagenen Tetzelkästen – der kleinen, transportablen Version eines Opferstocks.[9]
Die durch das Mittelalter sehr religiös determinierte und auf Klöster, Spitäler und Kirchen beschränkte Armenfürsorge durchlief ab der frühen Neuzeit einen Wandlungsprozess. Sie wurde zunehmend zu einer weltlichen Angelegenheit und wurde zur Aufgabe von Landesobrigkeiten und Städten.[10]
Sobald der Glaube obsolet wurde, dass man sich durch Almosengeben das eigene Seelenheil erkaufen müsse und man nur noch aus Nächstenliebe motiviert werden konnte, gab es auch weniger Spenden für die Bedürftigen. In der Neuzeit wurde Armut nicht mehr als gottgegeben, sondern als selbstverschuldet angesehen. Die Menschen wurden für ihre Untätigkeit bestraft, gerade seit der industriellen Revolution wurde jede Arbeitskraft in den Fabriken und Manufakturen benötigt. Im Lauf des 18. Jahrhunderts begann langsam der Staat sich in der Armenfürsorge zu engagieren. Klöster und Kirchen waren weiterhin aktiv, verloren jedoch an Bedeutsamkeit. Im 19. Jahrhundert bildeten sich private Wohltätigkeitsorganisationen, welche ebenso Geld für die Armen sammelten.[11] Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich dann langsam die Verbreitung einer Sozialversicherung für arbeitende Menschen in Österreich durch. Opferstöcke haben ihren Nutzen jedoch bis heute behalten.[12]
Gerade am Land versuchte man, die Kirchenbesucher:innen durch motivierende Sprüche zum Spenden zu bewegen. Die Drohung „Wer nicht opfert, der wird kropfert!“ weist darauf hin, dass das Almosengeben Menschen vor einem Kropf schützen oder vielleicht dabei helfen könnte, einen bestehenden Kropf wieder los zu werden. Aber was sind Kröpfe und woher kommen sie überhaupt?
Kröpfe und Kretinismus
Kröpfe gehen häufig mit Kretinismus einher und sind durch ein Versagen der Schilddrüse begründet.[13] Viele der Menschen, die von Kröpfen geplagt wurden, waren auch gehörlos, hatten verformte Beine oder geistige Beeinträchtigungen.[14] Gerade in der Obersteiermark, wo beispielsweise auch der steinerne Opferstock aus Aflenz herkommt, war die Angst vor Kröpfen und damit einhergehendem Kretinismus durchaus virulent.
Als Kropf wird umgangssprachlich die Vergrößerung der Schilddrüse bezeichnet. Der medizinische Fachausdruck dafür lautet Struma. In 90% der Fälle entstehen Kröpfe durch ernährungsbedingten Jodmangel. Jodmangel führt dazu, dass der Körper nicht genügend Schilddrüsenhormone produzieren kann, wodurch der Stoffwechsel beeinträchtig wird. Besonders bei Kleinkindern und ungeborenen Kindern können dadurch schwere Schäden entstehen. Sie entwickeln Jodmangelsyndrom, früher als Kretinismus bezeichnet. Die Folgen davon sind massive Entwicklungsstörungen und neurologische Schäden sowie Sprachstörungen, Gehörlosigkeit und verkürzte bzw. verformte Extremitäten.[15]
Im Volksglauben erklärte man sich Kröpfe und Kretinismus durch die uneheliche Zeugung eines Kindes, Armut, unreines Wasser, fettreiche Ernährung, unsaubere Luft in den engen Tälern und schlecht durchlüfteten Hütten, Mangel an Pflege und Reinlichkeit oder das Tragen schwerer Lasten auf dem Kopf. Den Menschen fiel im 18./19. Jahrhundert bereits auf, dass in Gegenden, in denen viel Meersalz konsumiert wurde, keine Kröpfe vorkamen.[16] Die Existenz von Jod wurde jedoch erst im Jahr 1812 entdeckt.[17] Auch in natürlichen Süßgewässern ist Jod in unterschiedlich hohen Konzentrationen enthalten, weshalb die Menschen mit ihrer Vermutung, dass Wasser etwas mit Kretinismus und Kröpfen zu tun haben könnte, nicht zur Gänze falsch lagen. Im Ennstal beispielsweise, wo Kretinismus besonders oft beschrieben wurde, dürfte das Jodvorkommen im Wasser deutlich niedriger gewesen sein als im Ausseerland, wo kaum Erwähnungen dieser Erkrankungen überliefert sind.[18]
Die Darstellung von „Kropferten“ und „Cretins“ in Reiseberichten
Berichte über „kropferte Steirer“ gehen bis ins frühe 16. Jahrhundert zurück.[19] Später wurde sogar behauptet, man würde Steirer:innen automatisch an ihren Kröpfen erkennen können. Es litt jedoch nicht nur die steirische Bevölkerung unter Kröpfen. Generell waren Kröpfe und Kretinismus in Gebirgsgegenden verbreiteter als anderswo.[20] Die Erzählungen über Kröpfe, Kretinismus und verkümmertes Wachstum schwanken zwischen Spott, Aberglauben und medizinischen Erklärungsversuchen.[21] Die Berichte über Kröpfe in der Steiermark stammen in großem Maße von Reisenden. Reisen waren in der frühen Neuzeit kostspielig und beschwerlich. Man unternahm sie nicht zum Spaß, sie hatten meist einen spezifischen Zweck. Reisende waren Händler und Kaufleute, Pilger, Gelehrte und Künstler. Ab dem 18. Jahrhundert wurden Bildungsreisen für den Adel und das wohlhabende Bürgertum populär, wodurch das Medium der Reisebeschreibungen aufkam. Diese Berichte wurden vor allem geschrieben um unterhaltsam zu sein, nicht unbedingt nur um zu informieren.[22]
Ein Thema, das von den Reiseberichten des 18./19. Jahrhunderts häufig behandelt wird, ist das „Volk“, also die ländliche Bevölkerung. Die Schilderungen der ländlichen Bevölkerung, samt ihrem Verhalten und zugeschriebenen Charaktereigenschaften, sind oft widersprüchlich oder negativ. Die Reisenden beobachteten das Volk auf der Straße oder bei der Arbeit, nur wenige von ihnen unterhielten sich auch ausgiebig mit den Menschen am Land. Die Beurteilung der Landbevölkerung ist also meist von sozialer Distanz geprägt. Die negativ geschilderten Eigenschaften des Volkes werden oft von den wohlhabenden, gebildeten Reisenden hervorgehoben, um die eigene aufklärerische Moral und Gewohnheit positiv davon abzuheben.[23] Die ländliche Bevölkerung wird beispielsweise von der Oberschicht aus der Stadt als sittenlos, laut, unzivilisiert, schmutzig oder freizügig bewertet. Der Unterschied war jedoch meist, dass bei der Landbevölkerung keine so strenge Etikette herrschte und die Menschen weniger Möglichkeiten besaßen, zu Bildung zu gelangen, als beim städtischen Bürgertum.[24]
Reiseliteraten waren sehr interessiert an „Kropferten“ und Kretins. Einerseits, weil sie diese Erkrankungen aus der eigenen Heimat oft nicht kannten, andererseits, weil man über Jahrtausende keine Erklärung dafür gefunden hatte.[25] Die Berichte von deutschen und generell nicht aus Österreich stammenden Reisenden über Kröpfe und Kretinismus sind prinzipiell sehr viel aufgebauschter und dramatischer geschildert, als die der österreichischen und steirischen Schriftsteller. Viele Reisende berichteten eher über Hörensagen als über selbst Gesehenes, wodurch negative Stereotype gebildet und weiter getragen wurden. Kröpfe, Kretinismus und Kleinwuchs waren wahrscheinlich lange nicht so verbreitet, wie es in der Reiseliteratur geschildert wurde.[26] Viele der Reiseliteraten beschwerten sich, dass die „kropferten“ Menschen ihnen die schöne Aussicht auf die Steiermark zerstörten.[27]
Der schottische Philosoph David Hume reiste im Jahr 1748 durch die Steiermark und schrieb einen Brief an seinen Bruder, in welchem er die steirische Berglandschaft in der Gegend um Knittelfeld sehr positiv schildert, die Bevölkerung selbst aber als abstoßend bezeichnet:
„Aber so ansprechend das Land in seiner Wildheit ist, so sehr sind seine Bewohner roh und entstellt und grässlich in ihrem Erscheinungsbilde. So manche von ihnen haben hässlich angeschwollene Hälse: von Cretins (Idioten) und Taubstummen wimmelt es in jedem Dorfe. Das allgemeine Aussehen des Volkes ist das allerschrecklichste, das ich jemals gesehen habe.“[28]
Der deutsche Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl reiste beinahe hundert Jahre später durch die Steiermark und beschrieb sie als „Land der Cretins“.[29] Er bezeichnete kropferte Menschen sehr drastisch als „Missgestalten“ und als „[…] die schrecklichste Verkrüppelung, welche sich irgendwo und irgendwie am Menschen offenbart; denn ihr Körper ist so entstellt wie ihr Geist entartet und ihr Verstand so verblendet wie ihr Gefühl verschroben.“[30]
Das Ende des steirischen Kropfproblems
Der österreichische Arzt und Universitätsprofessor sowie spätere Nobelpreisträger Dr. Julius Wagner-Jauregg begab sich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf die Suche nach den Ursachen und Heilungsmöglichkeiten für Kröpfe und Kretinismus. Von 1889 bis 1893 leitete Wagner-Jauregg die Psychiatrische Klinik in Graz, wobei ihn die Probleme von Kröpfen und Kretinismus stark interessierten. Nachdem die erkrankten Menschen aber kaum zu ihm nach Graz kamen, fasste er den Entschluss, selbst die Betroffenen in der Obersteiermark aufzusuchen. Er reiste dafür in Richtung Zeltweg und Judenburg, um mit seinen Forschungen zu beginnen. Dort untersuchte er Kinder und Säuglinge, um herauszufinden, wie Kretinismus und Kropfbildung ihren Anfang nahmen. Er versorgte, mit der Hilfe lokaler Ärzte und Schulleiter, betroffene Kinder ab dem Jahr 1900 mit Jodtabletten und kam alle drei Monate zu ihnen, um die Behandlung zu kontrollieren. Für seine Studie wollte er in der Obersteiermark 100 Kinder finden. Das große Interesse und Engagement der Mütter sorgte aber dafür, dass am Ende 142 Kinder teilnehmen durften. Diese Aktion setzte Wagner-Jauregg bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 fort. Ihm gelang dadurch ein Durchbruch in der medizinischen Forschung und er schaffte es, die Lösung für ein Jahrhunderte andauerndes Problem der steirischen Landbevölkerung zu finden.[31]
„Wagner-Jauregg erinnerte sich offenbar gern an die Zeit seiner Feldforschung in der Steiermark. Immer wieder soll er in seiner Wiener Vorlesung nachfolgende Anekdote erzählt haben: Im Rahmen seiner Kretinismusforschungen sei er in der Umgebung von Frohnleiten von Bauernhof zu Bauernhof gewandert. Als er einmal vergebens versuchte das Gatter eines Zauns zu öffnen, habe ihm von der anderen Seite des Zauns ein Mann, mit einem ‚echten steirischen‘ Kropf behaftet, schon längere Zeit zugeschaut. Plötzlich sei dieser auf ihn zugegangen und habe den Professor angesprochen: ‚Du a bisserl a Gogger, Du!‘ Und mit einem schnellen Griff hatte er das Gatter geöffnet.“[32]
Erst durch die Jodsalzprophylaxe, die Anreicherung von Lebensmitteln mit jodiertem Salz, welche 1948 in Österreich eingeführt und 1963 gesetzlich vorgeschrieben wurde, sind große Kröpfe und endemischer Kretinismus völlig aus den Alpengegenden verschwunden.[33]
Text: Laura Müller, BA BA BA
Literaturverzeichnis
Eibelhuber, Maria: Darstellungen der Lebensverhältnisse in der Steiermark anhand der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, Dipl.-Arb. Graz 2009.
Hammer-Luza, Elke: „Stündlich wartete ich meinen Aufbruch…“ – Reisen im Leben von Erzherzog Johann. In: Erzherzog Johann von Österreich, „Ein Land wo ich viel gesehen“: Aus dem Tagebuch der England-Reise 1815/16, Hrsg. v. Alfred Ableitinger und Meinhard Brunner (=Veröffentlichungen der historischen Landeskommission Steiermark 41). Graz 2009, S. 45-61.
Kretzenbacher, Leopold: Die kropfeten Steirer. Historischer Landesspott und alte Volksmedizin. In: Blätter für Heimatkunde 22/3. Graz 1948, S.73-83.
Kufeke, Kay: Die Darstellung des „Volkes“ in Reiseberichten des späten 18. und frühen 19. Jahr-hunderts (1780–1810). In: Conrad, Anne/Herzig, Arno/Kopitzsch, Franklin (Hrsg.): Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte 1) Hamburg 1998, S. 81–102.
Martin, Marion: Kleine Geschichte des Almosen-Sammelns. In: Museum für Sepulkralkultur (Hrsg.): Wenn das Geld im Kasten klingt… Vom Opferstock zur Online-Spende, Ausst.-Kat. Kassel 2005, S. 11-23.
Museum für Sepulkralkultur (Hrsg.): Wenn das Geld im Kasten klingt… Vom Opferstock zur Online-Spende, Ausst.-Kat. Kassel 2005.
Sörries, Reiner: Ein Streifzug durch die Welt der Geldsammelgerätschaften. In: Museum für Sepulkralkultur (Hrsg.): Wenn das Geld im Kasten klingt… Vom Opferstock zur Online-Spende, Ausst.-Kat. Kassel 2005, S. 4-10.
Abbildungsnachweis
Abb. 1-4: Opferstock aus Aflenz und Gusseisentafel mit Spruch, Schell Collection, Graz
Objekt des Monats April 2024
„Wer nicht opfert, der wird kropfert!“
Als Opferstock bezeichnet man ein verschlossenes Sammelgefäß aus Holz, Eisen oder Stein, mit einer Öffnung für den Einwurf von Münzen. Als „Stock“ wird er bezeichnet, weil Opferstöcke ursprünglich oft aus ausgehöhlten Baumstämmen gefertigt und mit Eisenbändern verstärkt waren.[1] Es gibt bis heute viele unterschiedliche Bezeichnungen für Opferstöcke, unter anderem Kirchenkasten, Armenblock, Opfertruhe oder Gotteskasten.[2]
Das Objekt
Inventarnummern: Opferstock 1170, Eisentafel 5162
Standort: 1. Stock
Maße: Opferstock 47 x 47 x 89 cm, Tafel 24 x 20 cm
Objektbeschreibung
Im ersten Stockwerk der Schell Collection befindet sich unauffällig an einer Wand stehend ein steinerner Kasten mit eisernem Aufsatz. Es handelt sich dabei um einen Opferstock aus rötlichem Marmorgestein. Er stammt vermutlich aus dem 18., wenn nicht sogar aus dem späten 17. Jahrhundert und ist bar jeder Dekoration. An der Vorderseite ist ein Teil des Gesteins herausgebrochen. Mit zwei Scharnieren ist eine schlichte Klappe aus schwerem Schmiedeeisen mit einer Öffnung für den Einwurf von Münzen auf dem Opferstock angebracht. Verschlossen wurde diese durch eine lange Überfalle und ein Vorhangschloss, welches nicht original erhalten ist. Der steinerne Opferstock stammt aus der Gemeinde Aflenz in der Obersteiermark und hat Mitte der 1980er Jahre durch eine Schenkung seinen Weg in die Schell Collection gefunden. Davor hat er sich lange Zeit neben der Aflenzer Pfarrkirche befunden, die im frühen 16. Jahrhundert fertiggestellt wurde.
Die Anekdote dazu ist sehr unterhaltsam: Mitte der 1980er Jahre hat der ehemalige Werbeleiter der Firma Odörfer-Eisenhof und erste Direktor der Schell Collection, Prof. Albert Berger, in der Wiese neben der Aflenzer Pfarrkirche ein Stück rötlichen Marmor aus der Erde ragen sehen. Er fragte den örtlichen Pfarrer, ob er dieses Stück Marmor ausgraben dürfe. Der Pfarrer hat ihm seine Zustimmung gegeben und meinte, Herr Berger könnte haben, was auch immer er dort ausgräbt. Es handelte sich dabei um diesen schönen, marmornen Opferstock.
Über dem Opferstock ist in der Ausstellung eine kleine Tafel aus Gusseisen montiert, die vermutlich im 19. Jahrhundert hergestellt wurde. Sie ist symmetrisch konvex geformt und rundum durch Ornamente gerahmt sowie mit kleinen Rocaillen geschmückt. In der Mitte befindet sich der Spruch: „Wer nicht opfert der wird kropfert!“. Die Bemalung stammt aus dem 20. Jahrhundert. Die Tafel kam nicht mit dem Aflenzer Opferstock in die Schell Collection, sondern wurde hier im Haus dekorativ dazu gehängt. Derartige Tafeln konnte es in Kirchen allerdings geben, um die Bevölkerung nachdrücklich zum Almosengeben aufzufordern.
Was bedeutet dieser vielsagende Spruch aber? Und wieso sollte so eine Tafel bei einem Opferstock angebracht werden?
Opferstöcke
Armenfürsorge war seit dem Altertum stark mit Religion verknüpft und meist an Tempel oder Kirchen gebunden. Im antiken Griechenland sowie später in Rom gab es neben den Tempeln Opferstöcke. Auch im Tempel von Jerusalem soll ein Opferstock gestanden haben, um für die Bedürftigen zu sammeln.[3]
Spenden wurden früher Almosen genannt. Der Begriff leitet sich vom griechischen ἐλεημοσύνη (eleemosyne) ab und bedeutet Mildtätigkeit, also Wohltätigkeit. Es ist in allen Religionen vorgesehen, wohltätig für die Armen zu handeln. Im Christentum war Wohltätigkeit lange damit verbunden, die eigene Seele vor dem Fegefeuer freizukaufen und den bereits Verstorbenen dabei behilflich zu sein, weniger Zeit im Fegefeuer verbringen zu müssen. Zudem wurde der soziale Frieden gewahrt, wohlhabendere Menschen zeigten Solidarität zu Bedürftigen und konnten ihr eigenes Gewissen beruhigen.[4] Im Mittelalter sah man Armut als gottgegeben an. Man wollte sie also nicht beseitigen, weil die Armen, welche die Empfänger der Almosen waren, für das Seelenheil der wohlhabenderen Almosengeber beten sollten. Aufgabe der Kirche mit den Opferstöcken war es, diese Almosen gerecht zu verteilen.[5]
Bis heute hat normalerweise jede Kirche, unabhängig davon, ob es sich um ein katholisches oder evangelisches Gotteshaus handelt, einen Opferstock vor dem Portal oder innerhalb des Gebäudes, um für Bedürftige zu sammeln. Diese Opferstöcke sind meist sehr dezent oder gar nicht künstlerisch gestaltet. Um nicht von etwaigen Dieben entleert zu werden, mussten Opferstöcke robust und wehrhaft gestaltet sein. Deshalb waren sie oft aus Stein, wenn sie vor den Kirchen standen und aus Eisen oder mit Eisen beschlagenem Holz, wenn sie in den Kirchen aufgestellt waren. In jedem Fall waren sie jedoch mit einem oder mehreren Vorhangschlössern versperrt.[6] Innerhalb der Kirchen befanden sich die Opferstöcke entweder beim Eingangsportal oder neben dem Altar. Zusätzlich stellte man bis in die Neuzeit auch Opferstöcke vor Kapellen, die in der Landschaft verteilt waren.[7]
Bei Katholiken kam das Geld, das durch Opferstöcke gesammelt wurde, auch der Kirche selbst und dem Pfarrer zu Gute. Erst bei den Protestanten wurde es Usus, dass das Geld in den Opferstöcken ausschließlich an die Bedürftigen verteilt wurde.[8]
Es war üblich, die Menschen mit Sprüchen zum Almosengeben zu motivieren. Bekannt war beispielsweise der deutsche Dominikanermönch Johannes Tetzel Mitte des 15. Jahrhunderts mit seiner Aussage: „Sobald der Gülden im Becken klingt, im huy die Seel in Himmel springt“ – oder auch: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“. Damit sammelte er Groschen für die Armen in seinen hölzernen und mit Eisen beschlagenen Tetzelkästen – der kleinen, transportablen Version eines Opferstocks.[9]
Die durch das Mittelalter sehr religiös determinierte und auf Klöster, Spitäler und Kirchen beschränkte Armenfürsorge durchlief ab der frühen Neuzeit einen Wandlungsprozess. Sie wurde zunehmend zu einer weltlichen Angelegenheit und wurde zur Aufgabe von Landesobrigkeiten und Städten.[10]
Sobald der Glaube obsolet wurde, dass man sich durch Almosengeben das eigene Seelenheil erkaufen müsse und man nur noch aus Nächstenliebe motiviert werden konnte, gab es auch weniger Spenden für die Bedürftigen. In der Neuzeit wurde Armut nicht mehr als gottgegeben, sondern als selbstverschuldet angesehen. Die Menschen wurden für ihre Untätigkeit bestraft, gerade seit der industriellen Revolution wurde jede Arbeitskraft in den Fabriken und Manufakturen benötigt. Im Lauf des 18. Jahrhunderts begann langsam der Staat sich in der Armenfürsorge zu engagieren. Klöster und Kirchen waren weiterhin aktiv, verloren jedoch an Bedeutsamkeit. Im 19. Jahrhundert bildeten sich private Wohltätigkeitsorganisationen, welche ebenso Geld für die Armen sammelten.[11] Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich dann langsam die Verbreitung einer Sozialversicherung für arbeitende Menschen in Österreich durch. Opferstöcke haben ihren Nutzen jedoch bis heute behalten.[12]
Gerade am Land versuchte man, die Kirchenbesucher:innen durch motivierende Sprüche zum Spenden zu bewegen. Die Drohung „Wer nicht opfert, der wird kropfert!“ weist darauf hin, dass das Almosengeben Menschen vor einem Kropf schützen oder vielleicht dabei helfen könnte, einen bestehenden Kropf wieder los zu werden. Aber was sind Kröpfe und woher kommen sie überhaupt?
Kröpfe und Kretinismus
Kröpfe gehen häufig mit Kretinismus einher und sind durch ein Versagen der Schilddrüse begründet.[13] Viele der Menschen, die von Kröpfen geplagt wurden, waren auch gehörlos, hatten verformte Beine oder geistige Beeinträchtigungen.[14] Gerade in der Obersteiermark, wo beispielsweise auch der steinerne Opferstock aus Aflenz herkommt, war die Angst vor Kröpfen und damit einhergehendem Kretinismus durchaus virulent.
Als Kropf wird umgangssprachlich die Vergrößerung der Schilddrüse bezeichnet. Der medizinische Fachausdruck dafür lautet Struma. In 90% der Fälle entstehen Kröpfe durch ernährungsbedingten Jodmangel. Jodmangel führt dazu, dass der Körper nicht genügend Schilddrüsenhormone produzieren kann, wodurch der Stoffwechsel beeinträchtig wird. Besonders bei Kleinkindern und ungeborenen Kindern können dadurch schwere Schäden entstehen. Sie entwickeln Jodmangelsyndrom, früher als Kretinismus bezeichnet. Die Folgen davon sind massive Entwicklungsstörungen und neurologische Schäden sowie Sprachstörungen, Gehörlosigkeit und verkürzte bzw. verformte Extremitäten.[15]
Im Volksglauben erklärte man sich Kröpfe und Kretinismus durch die uneheliche Zeugung eines Kindes, Armut, unreines Wasser, fettreiche Ernährung, unsaubere Luft in den engen Tälern und schlecht durchlüfteten Hütten, Mangel an Pflege und Reinlichkeit oder das Tragen schwerer Lasten auf dem Kopf. Den Menschen fiel im 18./19. Jahrhundert bereits auf, dass in Gegenden, in denen viel Meersalz konsumiert wurde, keine Kröpfe vorkamen.[16] Die Existenz von Jod wurde jedoch erst im Jahr 1812 entdeckt.[17] Auch in natürlichen Süßgewässern ist Jod in unterschiedlich hohen Konzentrationen enthalten, weshalb die Menschen mit ihrer Vermutung, dass Wasser etwas mit Kretinismus und Kröpfen zu tun haben könnte, nicht zur Gänze falsch lagen. Im Ennstal beispielsweise, wo Kretinismus besonders oft beschrieben wurde, dürfte das Jodvorkommen im Wasser deutlich niedriger gewesen sein als im Ausseerland, wo kaum Erwähnungen dieser Erkrankungen überliefert sind.[18]
Die Darstellung von „Kropferten“ und „Cretins“ in Reiseberichten
Berichte über „kropferte Steirer“ gehen bis ins frühe 16. Jahrhundert zurück.[19] Später wurde sogar behauptet, man würde Steirer:innen automatisch an ihren Kröpfen erkennen können. Es litt jedoch nicht nur die steirische Bevölkerung unter Kröpfen. Generell waren Kröpfe und Kretinismus in Gebirgsgegenden verbreiteter als anderswo.[20] Die Erzählungen über Kröpfe, Kretinismus und verkümmertes Wachstum schwanken zwischen Spott, Aberglauben und medizinischen Erklärungsversuchen.[21] Die Berichte über Kröpfe in der Steiermark stammen in großem Maße von Reisenden. Reisen waren in der frühen Neuzeit kostspielig und beschwerlich. Man unternahm sie nicht zum Spaß, sie hatten meist einen spezifischen Zweck. Reisende waren Händler und Kaufleute, Pilger, Gelehrte und Künstler. Ab dem 18. Jahrhundert wurden Bildungsreisen für den Adel und das wohlhabende Bürgertum populär, wodurch das Medium der Reisebeschreibungen aufkam. Diese Berichte wurden vor allem geschrieben um unterhaltsam zu sein, nicht unbedingt nur um zu informieren.[22]
Ein Thema, das von den Reiseberichten des 18./19. Jahrhunderts häufig behandelt wird, ist das „Volk“, also die ländliche Bevölkerung. Die Schilderungen der ländlichen Bevölkerung, samt ihrem Verhalten und zugeschriebenen Charaktereigenschaften, sind oft widersprüchlich oder negativ. Die Reisenden beobachteten das Volk auf der Straße oder bei der Arbeit, nur wenige von ihnen unterhielten sich auch ausgiebig mit den Menschen am Land. Die Beurteilung der Landbevölkerung ist also meist von sozialer Distanz geprägt. Die negativ geschilderten Eigenschaften des Volkes werden oft von den wohlhabenden, gebildeten Reisenden hervorgehoben, um die eigene aufklärerische Moral und Gewohnheit positiv davon abzuheben.[23] Die ländliche Bevölkerung wird beispielsweise von der Oberschicht aus der Stadt als sittenlos, laut, unzivilisiert, schmutzig oder freizügig bewertet. Der Unterschied war jedoch meist, dass bei der Landbevölkerung keine so strenge Etikette herrschte und die Menschen weniger Möglichkeiten besaßen, zu Bildung zu gelangen, als beim städtischen Bürgertum.[24]
Reiseliteraten waren sehr interessiert an „Kropferten“ und Kretins. Einerseits, weil sie diese Erkrankungen aus der eigenen Heimat oft nicht kannten, andererseits, weil man über Jahrtausende keine Erklärung dafür gefunden hatte.[25] Die Berichte von deutschen und generell nicht aus Österreich stammenden Reisenden über Kröpfe und Kretinismus sind prinzipiell sehr viel aufgebauschter und dramatischer geschildert, als die der österreichischen und steirischen Schriftsteller. Viele Reisende berichteten eher über Hörensagen als über selbst Gesehenes, wodurch negative Stereotype gebildet und weiter getragen wurden. Kröpfe, Kretinismus und Kleinwuchs waren wahrscheinlich lange nicht so verbreitet, wie es in der Reiseliteratur geschildert wurde.[26] Viele der Reiseliteraten beschwerten sich, dass die „kropferten“ Menschen ihnen die schöne Aussicht auf die Steiermark zerstörten.[27]
Der schottische Philosoph David Hume reiste im Jahr 1748 durch die Steiermark und schrieb einen Brief an seinen Bruder, in welchem er die steirische Berglandschaft in der Gegend um Knittelfeld sehr positiv schildert, die Bevölkerung selbst aber als abstoßend bezeichnet:
„Aber so ansprechend das Land in seiner Wildheit ist, so sehr sind seine Bewohner roh und entstellt und grässlich in ihrem Erscheinungsbilde. So manche von ihnen haben hässlich angeschwollene Hälse: von Cretins (Idioten) und Taubstummen wimmelt es in jedem Dorfe. Das allgemeine Aussehen des Volkes ist das allerschrecklichste, das ich jemals gesehen habe.“[28]
Der deutsche Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl reiste beinahe hundert Jahre später durch die Steiermark und beschrieb sie als „Land der Cretins“.[29] Er bezeichnete kropferte Menschen sehr drastisch als „Missgestalten“ und als „[…] die schrecklichste Verkrüppelung, welche sich irgendwo und irgendwie am Menschen offenbart; denn ihr Körper ist so entstellt wie ihr Geist entartet und ihr Verstand so verblendet wie ihr Gefühl verschroben.“[30]
Das Ende des steirischen Kropfproblems
Der österreichische Arzt und Universitätsprofessor sowie spätere Nobelpreisträger Dr. Julius Wagner-Jauregg begab sich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf die Suche nach den Ursachen und Heilungsmöglichkeiten für Kröpfe und Kretinismus. Von 1889 bis 1893 leitete Wagner-Jauregg die Psychiatrische Klinik in Graz, wobei ihn die Probleme von Kröpfen und Kretinismus stark interessierten. Nachdem die erkrankten Menschen aber kaum zu ihm nach Graz kamen, fasste er den Entschluss, selbst die Betroffenen in der Obersteiermark aufzusuchen. Er reiste dafür in Richtung Zeltweg und Judenburg, um mit seinen Forschungen zu beginnen. Dort untersuchte er Kinder und Säuglinge, um herauszufinden, wie Kretinismus und Kropfbildung ihren Anfang nahmen. Er versorgte, mit der Hilfe lokaler Ärzte und Schulleiter, betroffene Kinder ab dem Jahr 1900 mit Jodtabletten und kam alle drei Monate zu ihnen, um die Behandlung zu kontrollieren. Für seine Studie wollte er in der Obersteiermark 100 Kinder finden. Das große Interesse und Engagement der Mütter sorgte aber dafür, dass am Ende 142 Kinder teilnehmen durften. Diese Aktion setzte Wagner-Jauregg bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 fort. Ihm gelang dadurch ein Durchbruch in der medizinischen Forschung und er schaffte es, die Lösung für ein Jahrhunderte andauerndes Problem der steirischen Landbevölkerung zu finden.[31]
„Wagner-Jauregg erinnerte sich offenbar gern an die Zeit seiner Feldforschung in der Steiermark. Immer wieder soll er in seiner Wiener Vorlesung nachfolgende Anekdote erzählt haben: Im Rahmen seiner Kretinismusforschungen sei er in der Umgebung von Frohnleiten von Bauernhof zu Bauernhof gewandert. Als er einmal vergebens versuchte das Gatter eines Zauns zu öffnen, habe ihm von der anderen Seite des Zauns ein Mann, mit einem ‚echten steirischen‘ Kropf behaftet, schon längere Zeit zugeschaut. Plötzlich sei dieser auf ihn zugegangen und habe den Professor angesprochen: ‚Du a bisserl a Gogger, Du!‘ Und mit einem schnellen Griff hatte er das Gatter geöffnet.“[32]
Erst durch die Jodsalzprophylaxe, die Anreicherung von Lebensmitteln mit jodiertem Salz, welche 1948 in Österreich eingeführt und 1963 gesetzlich vorgeschrieben wurde, sind große Kröpfe und endemischer Kretinismus völlig aus den Alpengegenden verschwunden.[33]
Text: Laura Müller, BA BA BA
Literaturverzeichnis
Eibelhuber, Maria: Darstellungen der Lebensverhältnisse in der Steiermark anhand der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, Dipl.-Arb. Graz 2009.
Hammer-Luza, Elke: „Stündlich wartete ich meinen Aufbruch…“ – Reisen im Leben von Erzherzog Johann. In: Erzherzog Johann von Österreich, „Ein Land wo ich viel gesehen“: Aus dem Tagebuch der England-Reise 1815/16, Hrsg. v. Alfred Ableitinger und Meinhard Brunner (=Veröffentlichungen der historischen Landeskommission Steiermark 41). Graz 2009, S. 45-61.
Hemmer, Richard/Meßner, Daniel: Kleine Geschichte von drei Schweizer Ärzten, die den Kropf ausmerzten. In: https://www.spektrum.de/kolumne/kleine-geschichte-von-schweizer-aerzten-die-den-kropf-ausmerzten/2068272, 19.10.2022 (Zugriff 11.03.2024).
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Schatz, Helmut: Kretinismus und Riesenkröpfe in der Steiermark – ein medizinhistorischer Beitrag. In: https://blog.endokrinologie.net/kretinismus-riesenkroepfe-in-der-steiermark-2285/, 01.10.2015 (Zugriff 11.03.2024).
Sörries, Reiner: Ein Streifzug durch die Welt der Geldsammelgerätschaften. In: Museum für Sepulkralkultur (Hrsg.): Wenn das Geld im Kasten klingt… Vom Opferstock zur Online-Spende, Ausst.-Kat. Kassel 2005, S. 4-10.
Abbildungsnachweis
Abb. 1-4: Opferstock aus Aflenz und Gusseisentafel mit Spruch, Schell Collection, Graz
Abb. 5: Zwei Steirer mit Kröpfen und Kretinismus, Titel: „Cretinnen aus Steyermark“, 1819 gez. Loder, gest. Leopold Müller, https://jenikirbyhistory.getarchive.net/media/cretinnen-aus-steiermark-1819-gez-loder-gest-leopold-muller-f8cdc6 (Zugriff 21.03.2024)
[1] Museum für Sepulkralkultur, 2005, S. 31.
[2] Sörries, 2005, S. 4.
[3] Martin, 2005, S. 11.
[4] Sörries, 2005, S. 4.
[5] Martin, 2005, S. 12.
[6] Sörries, 2005, S. 5.
[7] Martin, 2005, S. 16.
[8] Museum für Sepulkralkultur, 2005, S. 34.
[9] Sörries, 2005, S. 4.
[10] Museum für Sepulkralkultur, 2005, S. 31.
[11] Martin, 2005, S. 17f.
[12] Ebd., S. 20.
[13] Eibelhuber, 2009, S. 158.
[14] Ebd., S. 154.
[15] Hemmer/Meßner, 2022, https://www.spektrum.de/kolumne/kleine-geschichte-von-schweizer-aerzten-die-den-kropf-ausmerzten/2068272.
[16] Eibelhuber, 2009, S. 154.
[17] Kretzenbacher, 1948, S. 75.
[18] Eibelhuber, 2009, S. 159.
[19] Kretzenbacher, 1948, S. 78.
[20] Ebd., S. 73f.
[21] Eibelhuber, 2009, S. 152.
[22] Hammer-Luza, 2009, S. 45.
[23] Kufeke, 1998, S. 81f.
[24] Ebd., S. 89.
[25] Eibelhuber, 2009, S. 158.
[26] Ebd., S. 152.
[27] Ebd., S. 154.
[28] Ebd., S. 179.
[29] Ebd., S. 155.
[30] Ebd., S. 181.
[31] Mader, 2010, https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Essays/Medizin/Kropfforschung.
[32] Ebd.
[33] Schatz, 2015, https://blog.endokrinologie.net/kretinismus-riesenkroepfe-in-der-steiermark-2285/.