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Objekt des Monats August 2020

Abb. 1: Die Märchenkassette von vorne

Die Märchenkassette von der Fa. Erhardt & Söhne

Die Kassette:

Inventarnummer: 6400

Maße: 19x29x21cm

Das Objekt

Das aktuelle Objekt des Monats vermag mit seiner verspielten Eleganz alle Blicke auf sich zu ziehen. Es ist eine Intarsienkassette aus Palisanderholz und Messing von der Firma Erhard & Söhne aus Schwäbisch Gmünd. Bei Palisanderholz handelt es sich um eine Edelholzart aus subtropischen und tropischen Regionen wie Brasilien oder Indien. Die Kassette mit rechteckiger Form besticht durch einen Tragebügel auf ihren nach vier Seiten hin gewölbtem Deckel, welcher mit Ranken und Blättern in der Art des Jugendstils verziert ist. Die Wandungen können als unten hohlkelig auslaufend beschrieben werden und zeigen umlaufend Szenen aus den Märchen der Gebrüder Grimm. Akzentuiert werden die Ecken durch je drei freistehende Säulen. Innen ist das Kästchen mit rotem Samt ausgeschlagen. Es verfügt über ein Ersatzfach mit einem Rand aus Maroquin-Leder. Der Schlüssel der Kassette zeigt in der Reide das Signet eines schreitenden Löwen.[1]

Materialien und Technik

Abb. 2: Die geöffnete Kassette mit rotem Samt

Seit jeher hatte das Kunstgewerbe mit einer großen Schwierigkeit zu kämpfen: Zwei Stoffe mit vollkommen heterogenen Eigenschaften untrennbar miteinander zu vereinen. Vor allem die beiden Stoffe aus denen dieses Objekt des Monats besteht, nämlich Holz und Messing, sind besonders schwer miteinander zu verbinden. Aus diesem Grund musste man sich lange Zeit mit dem gewöhnlichen Annageln oder Anschrauben von Metallteilen begnügen. Versuche, Einlegearbeiten mit verschiedenen Materialien herzustellen, sind oftmals gescheitert, da große Teile der Möbeloberflächen verdarben, sich Metallteile vom Untergrund ablösten, oder die Einlage vom Metall gesprengt wurde und herausfiel. Temperaturschwankungen oder der Feuchtigkeitsgehalt in Räumen können dafür verantwortlich sein, weil sich die Metalle in der Wärme mehr ausdehnen als Holz und somit großen Druck auf ihre Umgebung ausüben.

Abb. 3: Der Werdegang einer Intarsiaplatte

Erst zwei Männer Namens Hugendubel und Bücher schafften es nach vielen Versuchen, Metall-Intarsien unzertrennbar miteinander zu verbinden. Möglich wurde dies, indem Holz und Metall an eine gemeinsame Metallunterlage angebracht wurden. Das Holzfurnier wurde durch zahllose kleine Häkchen, die sich in das Holz einbohren und durch das Einpressen umgebogen werden, befestigt. Das Metall konnte durch das Anlöten an dieselbe Unterlage angebracht werden. Schnell erlangte die Firma Erhard & Söhne nicht nur das Patent dieser Technik, sondern gewann auch Theodor Bücher als Mitarbeiter, welcher von nun an eine führende Rolle in der württembergischen Zentrale einnahm.[2]

Dank dieser neuen Technik konnte Erhard & Söhne den gewaltigen Umbruch in der Kunst und im Kunstgewerbe in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts folgen und somit den Rufen nach Versachlichung der Form und dem ästhetischen Zusammenspiel von Dekor und Funktionalität gerecht werden. Die aus planen Flächen bestehenden Kästchen und Dosen wurden nun mit Dekoren aus flachem Messingblech verziert, wodurch eine neue, elegante und dekorative Produktpalette entstand.[3]

Abb. 4: Werbung für die Erhard-Intarsia

Diese Produktpalette traf den Geschmack der Zeit und kann in den Jugendstil eingeordnet werden. Der Jugendstil entstand Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenströmung zum Historismus. Mit der um sich greifenden Massenproduktion wuchs die Angst vor dem Verlust der traditionellen handwerklichen Fertigkeiten. Der Ruf nach Rückkehr zur Natur und zu anderen gestalterischen Elementen wurde immer lauter, weshalb ein neuer zeitgemäßer Stil – der Jugendstil – das Kopieren vergangener Epochen beenden sollte.[4]

 

 

 

Abb. 5: Die linke Seite der Märchenkassette

Das Unternehmen Erhard & Söhne

1844 wurde die Firma Erhard & Söhne von Carl Gottlob Erhard (1790-1874) gegründet. Die Produktionsstätte in Schwäbisch Gmünd ist eines der ältesten noch heute produzierenden Unternehmen und wurde mehr als sechs Generationen im Familienbetrieb geführt. Mit den Söhnen Carl (1819-1888) und Julius (1820-1898) erlangte das Unternehmen dank innovativer Entwicklungen im Zusammenhang mit Kunstgewerbe, Technik und Forschung überregionale Bedeutung. Zu Beginn der Produktion wurde vor allem Messing für Schlösser, Beschläge und Zierteile verarbeitet. Aber auch Gebrauchs- und Luxusgüter, Kirchen- und Kultgeräte wurden ab 1857 angefertigt. Zur Produktpalette des 20. Jahrhunderts zählten u.a. Kassetten oder Schreibtischgarnituren. Seit 1945 war das Unternehmen wesentlich an der Entwicklung und der Produktion des weltweit in Einsatz gebrachten Unimog beteiligt. 1956 erwarb Erhard & Söhne das Patent für die zweiwandigen Isolier- bzw. Thermoskannen. Somit gelang dem Unternehmen der Übergang von der handwerklichen Einzelanfertigung von historischem Kunstgewerbe bis hin zur Massenproduktion von späterem Industriedesign. Heute produziert die Firma Erhard & Söhne Kraftfahrzeugteile, unter anderem für Rolls Royce, BMW oder VW. Sie ist einer der führenden Tankhersteller in Europa.[5]

Abb. 6: Der Deckel des Objekts des Monats

Zu den populärsten Erfindungen der Firma Erhard & Söhne zählt der Schleuderaschenbescher, der erstmals 1939 produziert wurde und den das Unternehmen patentierte. Über 14 Millionen Exemplare wurden bisher bei Erhard & Söhne hergestellt, aber auch in Asien wurden Millionen Nachahmer produziert. Obwohl der Schleuderaschenbecher heute weltweit verbreitet ist und sich an großer Beliebtheit erfreut wissen nur wenige, dass er ein Patent von Erhard & Söhne ist.[6] 167 Jahre überstand das Unternehmen seit seinem Gründungstag, meisterte Weltkriege und viele Rezessionen. Geschickte Reaktionen auf Markt- und Modeströmungen ließen das Unternehmen ständig Neues entwickeln und hielten Erhard & Söhne auf stetigem Expansionskurs. Dabei zählte die geschickte Verbindung von funktionalem Nutzen und ästhetischer Gestaltung von Beginn an zum Ziel der Firma.[7] 2011, im Zuge der Finanzkrise, wurde das Unternehmen schließlich von Magna Steyr übernommen.[8]

Das Signet des Löwen

Abb. 7: Der Schlüssel mit Löwen-Signet

Wie bereits erwähnt findet sich in der Reide des Schlüssels der Kassette das Signet eines schreitenden Löwen. Der Löwe ist das Firmenlogo der Firma Erhard & Söhne. Als Vorlage diente ein spätgotisches Aquamanile (lat. für Wasser und Hand) aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Dabei handelt es sich um ein Gießgefäß zur Händewaschung bei liturgischen Handlungen und vor den Mahlzeiten. Diese meist in Metall gearbeiteten Miniaturbehälter waren vor allem zwischen 1100-1400 verbreitet. Der „Nürnberger Löwe“ ist ein Messingguss aus der Zeit um 1400, stammt ursprünglich aus Norddeutschland und gehört zum ältesten Bestand des Museums. Auch heute ist der Löwe noch immer Signet des Unternehmens, allerdings minimalistisch auf wenige lineare Konturen reduziert.[9]

Die Märchen der Gebrüder Grimm

Abb. 8: Die rechte Seite der Kassette

„Gebrüder Grimm“, das klingt nahezu wie eine Firma, die gegründet wurde, um Märchen zu verbreiten. Ganz so hat es sich zwar nicht zugetragen, dennoch sind die Märchen der Brüder Grimm ein fester Bestandteil unserer kulturellen Erinnerung. Wer denkt nicht gerne an seine Kindheitstage zurück, als einem vor dem zu Bett gehen aus dem Märchenbuch vorgelesen wurde? Kein Wunder also, dass die Märchen der Gebrüder Grimm so gerne in der Kunst und den Unterhaltungsmedien rezipiert wurden.

Auf unserem Objekt des Monats sind einige Märchen der Gebrüder Grimm abgebildet. Auf der Vorderseite sehen wir Rotkäppchen und den bösen Wolf, die 7 Raben, Schneewittchen und die 7 Zwerge, Aschenputtel und den gestiefelten Kater. Die Rückseite wird geziert durch die Bremer Stadtmusikanten, die goldene Gans, Hänsel und Gretel und Dornröschen. Auf der rechten Seite finden sich die Siebenmeilenstiefel, die weiße Schlange, der Hase und der Igel und der Froschkönig. Auf der linken Seite sind der fliegende Koffer und der Rattenfänger von Hameln zu sehen. Den Inhalt jedes dieser Märchen zu besprechen würde den Umfang dieses Textes sprengen. Aber vielleicht kann Sie ja unser Objekt des Monats dazu motivieren, das alte Märchenbuch hervor zu suchen und ein bisschen darin zu schmökern…

Wie es Gerhard Lauer in seinem Aufsatz über die Brüder Grimm und ihre Folgen richtig

Abb. 9: Die Hinterseite der Märchenkassette

ausdrückt: „Wer über Märchen sprechen will, muss über die Brüder Grimm reden.“ [10] Tatsächlich ist das Wort „Märchen“ mit keinem Namen inniger verbunden. Aber wussten Sie, dass Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) eine neue Etappe in der Entwicklung der Sprachwissenschaft begründeten? Heute wird sie als historisch-vergleichende Sprachwissenschaft bezeichnet. Das bedeutet, dass mit den Gebrüdern Grimm begonnen wurde, die deutsche Sprache systematisch und historisch zu vergleichen und zu erforschen. Die Gebrüder Grimm wandten sich nicht nur der Sprachgeschichte zu, sondern auch dem nationalen Erbe in der literarischen Überlieferung, nämlich den Märchen und Sagen, den Mythen, der mittelalterlichen Literatur oder vorgeschichtlichen Überlieferungen. Bei den „Märchen der Brüder Grimm“ handelt es sich um ihre bekannteste Arbeit. Nicht zu vergessen sind zahlreiche andere Werke, wie die „Deutsche Grammatik“ (1837), welche einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der linguistischen Theorie und Praxis hatte, die „Geschichte der deutschen Sprache“ (1848) in zwei Bänden oder die ersten Bände zum „Deutschen Wörterbuch“ (1854), welche die Germanistik entscheidend beeinflussten.[11]

Abb. 10: Werbung der Firma Erhard & Söhne

Text: Hannah Konrad, BA

 

Literatur

Berger, Ewald: Prunkkassetten. Meisterwerke aus der Hanns Schell Collection. Stuttgart: Arnoldsche 1998.

Holthuis, Gabriele: Weltpatente aus Schwäbisch Gmünd. Das Unternehmen Erhard & Söhne – Vom Kunsthandwerk zum Industriedesign. Schwäbisch Gmünd: Museum im Prediger 2009.

Lauer, Gerhard: Die Brüder Grimm und ihre Folgen. In: Regina Bendix, Ulrich Marzolph (Hrsg.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europäischen Vergleich. Hohengehren: Schneider Verlag 2008.

Pall, Martina: Versperrbare Kostbarkeiten aus der Hanns Schell Collection. Graz: Eigenverlag der Hanns Schell Collection 2006.

Pazaurek, Gustav E.: Erhardsche Metall-Intarsien. In: Dekorative Kunst XIX, München 1910/11, S. 558-560.

Schmidt, Wilhelm: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium, 11 Auflage. Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2013.

Spindler, Sabine: Erhard & Söhne. In: Sammlerjournal 9, 2013, S. 18-27.

 

Online-Quellen:

Matern, Matthias: Übernahme von Erhard & Söhne bestätigt. In: Potsdamer Tagesspiegel, 05.02.2011. Online: https://www.pnn.de/potsdam/uebernahme-von-erhard-und-soehne-bestaetigt/22072286.html (Zugriff: 20.7.2020)

 

Sonstige Quellen:

Erhard & Söhne: 150 Jahre Erhard & Söhne. Firmenbroschüre.

[1] Vgl. Martina Pall: Versperrbare Kostbarkeiten aus der Hanns Schell Collection. Graz: Eigenverlag der Hanns Schell Collection 2006, S. 107.

[2] Vgl. Gustav E. Pazaurek: Erhardsche Metall-Intarsien. In: Dekorative Kunst XIX, München 1910/11, S. 558.

[3] Vgl. Sabine Spindler: Erhard & Söhne. In: Sammlerjournal 9, 2013, S. 23.

[4] Vgl. Ewald Berger: Prunkkassetten. Meisterwerke aus der Hanns Schell Collection. Stuttgart: Arnoldsche 1998, S. 39.

[5] Vgl. Gabriele Holthuis: Weltpatente aus Schwäbisch Gmünd. Das Unternehmen Erhard & Söhne – Vom Kunsthandwerk zum Industriedesign. Museum im Prediger: Schwäbisch Gmünd, 2009, S. 10-11.

[6] Vgl. Sabine Spindler: Erhard & Söhne. In: Sammlerjournal 9, 2013, S. 18.

[7] Vgl. Erhard & Söhne: 150 Jahre Erhard & Söhne. Firmenbroschüre, S. 3-4.

[8] Vgl. Matthias Matern: Übernahme von Erhard & Söhne bestätigt. In: Potsdamer Tagesspiegel, 05.02.2011. Online: https://www.pnn.de/potsdam/uebernahme-von-erhard-und-soehne-bestaetigt/22072286.html (Zugriff: 20.7.2020)

[9] Vgl. Gabriele Holthuis: Weltpatente aus Schwäbisch Gmünd. Das Unternehmen Erhard & Söhne – Vom Kunsthandwerk zum Industriedesign. Schwäbisch Gmünd: Museum im Prediger 2009, S. 19.

[10] Gerhard Lauer: Die Brüder Grimm und ihre Folgen. In: Regina Bendix, Ulrich Marzolph (Hrsg.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europäischen Vergleich. Hohengehren: Schneider Verlag 2008, S. 5.

[11] Vgl. Wilhelm Schmidt: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium, 11 Auflage. Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2013, S. 168.