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Objekt des Monats Dezember 2024

Objekt des Monats Dezember 2024

Göttliche Besessenheit

Die Krone eines Orakelmediums aus Tibet

2024 neigt sich dem Ende zu und das neue Jahr steht vor der Tür. Solche Zeiten des Übergangs sind für viele eine gute Möglichkeit sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Was hält 2025 für mich bereit? Werde ich endlich die große Liebe finden? Ist es Zeit für einen beruflichen Wechsel? Fragen über Fragen…! Doch wer soll darauf die Antworten geben?

Nicht nur hier in Österreich, sondern überall auf der Welt gab bzw. gibt es verschiedene Methoden, die einen Blick in die Zukunft gewähren sollen. Eine Praxis aus Tibet soll im Rahmen des Objekts des Monats Dezember vorgestellt werden: Das Ritual des Orakelmediums. Zur Durchführung werden verschiedene Gegenstände benötigt. Einer davon ist eine Kopfbedeckung, die häufig als Orakelkrone bezeichnet wird. Während der Weissagungszeremonie wird diese auf dem Kopf des Mediums platziert. In der Ethnologischen Sammlung Schell befindet sich eine solche Orakelkrone.

Abb. 1: Krone eines Orakelmediums. Tibet, 19. Jh

Warum die Krone von essentieller Bedeutung für das Ritual ist, wer durch ein Orakelmedium spricht und warum für dieses sogar Lebensgefahr besteht, wird im folgenden Artikel erläutert.

Das Objekt

Inv.-Nr. 451, H: 20 cm. 1. Stock, Foyer, Sonderausstellung “Best of Depot”, Vitrine 6.

Bei der Orakelkrone handelt es sich – wie bereits erwähnt – um ein Objekt aus der Ethnologischen Sammlung Schell. 2013 kam das Exponat im Zuge eines Konvoluts von Objekten aus der Himalaya-Region in den Bestand. Die Krone besteht hauptsächlich aus Silber und Messing. Weiters sind kleine Stellen des Silbers vergoldet. Zeitlich kann die Krone aller Wahrscheinlichkeit nach dem 19. Jh. zugeordnet werden und stammt ursprünglich aus Tibet.

Die Krone besteht aus einem Reifen auf dem fünf Totenköpfe aufgesteckt sind. Dieser Ring ist mit verschiedenen Symbolen verziert. In der Mitte prangt ein vierstrahliger Donnerkeil, der in Tibet Dorje genannt wird. Rechts und links davon sieht man je einen sich windenden Drachen. Danach folgt eine Verzierung in Kreisform mit kleinen Türkisen und Korallenstücken. Am hinteren Ende des Reifens ist noch auf beiden Seiten je ein schreitender Vogel dargestellt.

Abb. 2: Detail eines der Totenköpfe auf der Krone.

Die Bedeutung der fünf Totenschädel wird im Lauf des Artikels noch erläutert werden. Sie sind aus Silber gefertigt und man sieht Details wie eine vertikal verlaufende Schädelnaht. Die Augen und die Zähne weisen eine rote Bemalung auf. In den Köpfen stecken Flammen aus Messing, die mit kleinen Korallen oder Türkisen verziert sind. Weiters kommen aus dem Mund des vordersten Schädels zwei Flammen aus Messing heraus. Aus den restlichen vier Mündern ragt nur je eine Flamme seitlich hervor.

Normalerweise befindet sich die Orakelkrone im Depot, gemeinsam mit den meisten Objekten aus der Ethnologischen Sammlung Schell. Derzeit ist das Exponat aber Teil der Sonderausstellung „Best of Depot“ im 1. Stocks des Museums. Diese kann bis einschließlich Herbst 2025 besichtigt werden.[1]

Das Ritual des Orakelmediums

In Tibet werden bis heute unterschiedliche Praktiken zur Entschlüsselung der Zukunft angewandt. Dazu zählen beispielsweise das Rauchorakel, die Eingeweideschau, das Werfen von Würfeln oder Steinen sowie das Teigbällchen-Orakel, genannt zenril tripa. Neben Privatpersonen nahmen bzw. nehmen auch Institutionen oder Herrschende solche Orakel in Anspruch, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Die Gründe für die Konsultation eines Orakels betrafen alle Bereiche des Lebens wie z.B. Liebe und Heirat, rechtliche Angelegenheiten oder den idealen Standort für ein neues Haus. Für einige Orakelmethoden musste eine Spezialistin oder ein Spezialist herangezogen werden. Bei manchen Praktiken reichten Grundkenntnisse aus, die sich auch Laien aneignen konnten. Teilweise gehen die Orakelmethoden auf jene Zeit zurück, in der die Bön Religion als Glaubensvorstellung vorherrschend war. Dieser alte Glauben Tibets wurde Stück für Stück vom Buddhismus abgelöst und zahlreiche Bön Gottheiten in die neue Religion eingegliedert.[2]

Nach diesem kurzen Überblick über die tibetischen Orakelpraktiken soll nun speziell die Methode des Orakelmediums und das dazugehörige Ritual behandelt werden.

Da die Krone des Orakelmediums die zentrale Rolle bei dem Ritual spielt, werfen wir kurz einen Blick auf die Symbolik des Objekts. Bei der rituellen Kopfbedeckung handelte es sich entweder um Stoffbänder mit fünf Zacken oder aber um prunkvolle Kronen aus Messing, Silber und Gold. Letztere waren die Kopfbedeckung von Medien, die unter dem Einfluss von jenen Gottheiten standen, die in Verbindung mit der buddhistischen Lehre stehen. Die fünf Zacken oder Flammen auf der Krone repräsentieren die fünf Tathagatas, die auch als transzendente Buddhas (sanskrit. Dhyani-Buddhas) bekannt sind. Die Totenköpfe auf der Krone sollen die Menschen daran erinnern, dass es Wesen gibt, die über der menschlichen Existenz stehen.[3]

Abb. 2: Symbol des doppelten Donnerkeils an der Vorderseite.

Es war üblich, dass man bereits bei Kindern auf Zeichen achtet, die für eine spätere Eignung als Orakelmedium hindeuten konnten. Ein Lama, ein spiritueller Lehrer im Buddhismus Tibets, oder ein Priester übernimmt es, die Mädchen oder Jungen dahingehend zu beurteilen. Nur ein geschultes Auge kann erkennen, ob es sich um die Besessenheit durch eine Gottheit oder durch einen Dämon handelte. Wenn ersteres der Fall war, dann wird das Kind zum Orakelmedium ausgebildet. Diese bezeichnet man als lha pa (einer Gottheit zu eigen), als lha bab (von einer Gottheit besessen) oder als lha shon (von einer Gottheit geritten).[4]

Der wichtigste Aspekt bei dem Ritual des Orakelmediums war das Aufsetzen der Kopfbedeckung, also des Bandes oder der Krone. Erst so konnte eine Verbindung zwischen der Gottheit und dem Medium gewährleistet werden. Das Medium befand sich während des Rituals in einer Art Trance und die Gottheit nimmt Besitz von seinem Körper und seinem Geist. Das Medium beginnt mit einer Art ekstatischen Tanz, während die Fragen gestellt werden. Häufig stammelte das Medium nur vor sich hin und die anwesenden Mönche oder Priester hatten die Aufgabe, die Worte in einen Orakelspruch zu formen. Das Ritual selbst durfte unter gar keinen Umständen unterbrochen werden. Als besonders unheilvoll galt es, wenn die Kopfbedeckung herunterfiel oder dem Medium entrissen wurde. Während der stundenlangen Tänze verausgabten sich die Medien häufig. So kam es vor, dass die Orakelmedien nach der Trance zusammenbrachen und mehrere Tage bewusstlos waren. Weiters ist überliefert, dass die Anstrengung zum Tod des Mediums führte, wenngleich dies selten geschah. Als besonders begabt galten selbstverständlich jene, deren Prophezeiungen häufig eintraten. Das höchste Ansehen wiederrum genossen die Orakelmedien von Gottheiten, die von der Bön-Religion zum Buddhismus übergetreten waren. Dann bezeichnete man das Medium als kuten, was übersetzt „Stütze der Götter“ bedeutet. Die tibetischen Klöster versuchten mehr als einen kuten bei sich zu haben und obwohl viele der Medien Laien waren, durfte sie im Kloster wohnen.[5]

Abb. 4: Detail eines der Ornamente auf der Krone.

Oftmals trugen die Orakelmedien – vor allem die kuten – prächtige Gewänder. Ein weiteres Ritualobjekt neben der Krone war der Orakelspiegel (melong). Dieser wurde auf Brusthöhe befestigt und sollte es ermöglichen in andere Welten einzutauchen bzw. diese für die beim Ritual Anwesenden zu reflektieren. Einfache Orakelspiegel waren aus Eisen oder Messing, jene der kuten meistens aus Silber. Häufig waren auch besondere Silben wie hrih (dt. Aufgepasst!“) oder kyaih, eine Anrufung von Schutzgottheiten, in die Vorderseite solcher Orakelspiegel eingearbeitet.[6]

Der Orakelgott Pehar und das Staatsorakel von Tibet

Obwohl es einige Gottheiten in Tibet gibt, die mit Prophezeiungen und Orakelwesen in Verbindung stehen, sticht ein Gott aus dieser Gruppe hervor. Man kennt ihn unter dem Namen Pehar oder Pekar. Seit dem 8. Jh. galt er als Orakelgottheit, der im Kloster Samye wohnte, dem ältesten in Tibet. Aufgrund seines Verhaltens bei den Prophezeiungen kam es zu einem Zerwürfnis mit den Mönchen, die Pehar in ein Holzkästchen einsperrten. Um sich von der seltsamen Gottheit zu befreien, warf man es in einen Fluss, der Pehar weit forttragen sollte. Dies soll sich im 15. Jahrhundert zu getragen haben. Allerdings wurde der Gott aus dem Kästchen befreit und begann wieder mit seiner Weissagungstätigkeit. So wurde Pehar von einer anderen Gruppe von Mönchen eingeladen, sich an diesem Ort niederzulassen. So soll das Kloster Nechung entstanden sein. Die Orakelmedien von Pehar wurden seit 1642 als das offizielle Staatsorakel von Tibet angesehen. Dieses genießt natürlich die höchste Anerkennung im Land und es handelt sich vorwiegend um Männer, die das Amt ausüben.[7]

Hin und wieder kam es vor, dass auch das Staatsorakel Weissagungen tätigte, die sich als unzutreffend herausstellten. Ein Beispiel dafür wäre die Zeit des Einmarsches der Briten in Tibet in den Jahren 1903/04. Manche Prophezeiungen in diesem Zusammenhang des Staatsorakels namens Gobo Chöje stellten sich als falsch heraus und der Dalai Lama musste in die Mongolei flüchten. Nach der Rückkehr nach Tibet wurde das Orakel aus seinem Amt entlassen.[8]

Auch bei der Erforschung der Himalaya Region und seiner gewaltigen Berge spielte das Staatsorakel eine Rolle. Im Jahr 1947 wurde nach einer Weissagung einer britischen Expedition die Besteigung des Mount Everest, in Tibet als Qomolangma bekannt, verweigert.[9]

Abb. 5: Detail eines Drachen seitlich an der Orakelkrone.

1950 kam es zum Einmarsch der chinesischen Armee in Tibet, um das Land zu annektieren. Wie üblich wurde in solchen bedrohlichen Zeiten auch das Staatsorakel befragt. Dieses riet einen neuen Dalai Lama zu inthronisieren. Doch der Spruch wurde von der Regierung ignoriert. Als es zur Belagerung der Hauptstadt Lhasa kam, kam es erneut zur Befragung. Doch nun kam von der Orakelgottheit keine Antwort mehr. In weiterer Folge musste der inzwischen eingesetzte 14. Dalai Lama 1959 nach Dharamsala in Indien fliehen. Den Fluchtweg soll das damalige Staatsorakel namens Lobsang Jigme genau vorgegeben haben und es folgte dem Dalai Lama ins Exil. Bis heute befindet sich das religiöse Oberhaupt Tibets dort. Mittlerweile gibt es ein neues Staatsorakel namens Thubten Ngödrub, welches 1987 ins Amt berufen wurde.[10]

Vielleicht ist Ihnen jetzt klarer, warum gerade die Praxis der Befragung des Orakelmediums von so großer Bedeutung in Tibet ist. Nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch bei Ereignissen, die staatstragend sind, werden diese Medien zu Rate gezogen und der Gott Pehar um eine Antwort gebeten.

Falls Sie sich selbst ein Bild von der prächtigen Krone machen möchten, dann kommen Sie doch dieses Jahr noch in der Schell Collection vorbei. Wir wünschen Ihnen mit diesem Einblick in die Lebenswelten anderer Kulturen einen schönen Jahresabschluss, angenehme Feiertage und einen guten Start ins Jahr 2025!

Text: Mag. Verena Lang

 

Abbildungsnachweise:

Abb. 1-5: prismaundkante, Graz.

 

Literaturverzeichnis:

Essen, Wolfgang-Gerd / Thingo, Tsering Tashi: Die Götter des Himalaya. Tafelband. München 1989.

Längle, Jasmin / Stegmann, Julia / Müller, Laura / Lang, Verena: Best of Depot. Verborgene Schätze aus der Schell Collection. Ausstellungskatalog zur Sonderausstellung. Graz 2024.

Schuster Gerhardt W. / Schuster, Susanne: Geheimnisvolle Welt des Alten Tibets, Wien 2001.

Schuster, Gerhardt W.: Das Alte Tibet – Geheimnisse und Mysterien. St. Pölten/Wien/Linz 2000.

Tibet. Buddhas – Götter – Heilige. Museum der Kulturen Basel. München/London/New York 2001.

 

Online Quellen:

http://www.tibet-encyclopaedia.de/staatsorakel.html (Zugriff am 7.11.2024).

 

[1] Vgl. Längle / Stegmann / Müller / Lang, 2024, S. 61.

[2] Vgl. Schuster, 2000, S. 35; vgl. Schuster, 2001, S. 110ff.

[3] Vgl. Schuster, 2000, S. 286; vgl. Schuster, 2001, S. 114.

[4] Vgl. Schuster, 2001, S. 113.

[5] Vgl. Schuster, 2000, S. 47ff.; vgl. Schuster, 2001, S. 116ff.

[6] Vgl. Essen, 1989, S. 268; vgl. Schuster, 2001, S. 117; vgl. Tibet, 2001, S. 124.

[7] Vgl. Schuster, 2001, S. 119ff.; vgl. http://www.tibet-encyclopaedia.de/staatsorakel.html (Zugriff am 7.11.2024).

[8] Vgl. http://www.tibet-encyclopaedia.de/staatsorakel.html abgerufen (Zugriff am 7.11.2024).

[9] Vgl. http://www.tibet-encyclopaedia.de/staatsorakel.html (Zugriff am 7.11.2024).

[10] Vgl. Schuster, 2000, S. 52ff.; vgl. Schuster, 2001, S. 119ff.; vgl. http://www.tibet-encyclopaedia.de/staatsorakel.html abgerufen (Zugriff am 7.11.2024).