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Objekt des Monats Mai 2023

Objekt des Monats Mai 2023

Das Besondere am Doppelten

Figurenpaar „Ere Ibeji“ aus Holz

Abb. 1: „Ibeji“-Figuren mit Kaurimuschelmantel.

Wenn ein Kind zur Welt kommt, dann ist dies ein bedeutender Moment für Eltern, Familie und Freunde. Noch mehr Aufsehen erregt eine Zwillings- oder Mehrlingsgeburt. In vielen Mythologien gibt es Geschichten über Zwillinge mit besonderen Fähigkeiten. Omen und andere Vorhersagen standen im Volksglauben häufig mit Zwillingsgeburten in Verbindungen. Das gilt nicht nur für unsere Breiten, auch in manchen Regionen Afrikas haben Zwillinge einen besonderen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft. In der ethnologischen Sammlung der Schell Collection findet sich nicht ein Exponat, das perfekt zu diesem Thema passt, sondern gleich zwei. Logisch, es geht ja auch um Zwillinge.

Die Objekte

Inv.-Nr. 645, Höhe: ca. 25 cm

Diesen Monat steht ein Figurenpaar, das man als „Ere Ibeji“ bezeichnet, im Fokus. Es handelt sich um zwei aus Holz geschnitzte, menschliche Statuetten. Sie stammen von der Ethnie der Yoruba aus Nigeria, genauer gesagt von der ethnischen Untergruppe der Igbomina aus dem Nordosten. Die beiden Objekte sind derzeit – mit einigen anderen – im Museum der Völker in Schwaz (Tirol), einem Partnermuseum der Schell Collection, ausgestellt. Man bezeichnet solche Figuren – wie bereits erwähnt – als „Ibeji“. Jede der hölzernen Statuen ist ein Stellvertreter eines verstorbenen Zwillings. Was es genau damit auf sich hat, wird im Folgenden erklärt werden.

An dieser Stelle sei jedoch noch das Aussehen der beiden Objekte erwähnt. Beide Figuren tragen eine hoch aufgetürmte, blau gefärbte Frisur und haben große mandelförmige Augen. Der Mund ist bei beiden Statuen zu einem Lächeln geformt. Im Gesicht sieht man längliche Kerben im Holz. Möglicherweise soll dies auf Ziernarben hinweisen, die auch „Skarifikationen“ genannte werden. Um die proportional langen Hälse tragen beide Figuren blaue und rote Halsketten. Der Körper wird vollständig von einem voluminösen Umhang verhüllt. Dieser ist über und über mit Kaurischnecken verziert.

Abb. 2

Der Brauch der Ibeji Figuren

Wie bereits erwähnt stammen die Objekte von der Ethnie der Yoruba, die eine große Bevölkerungsgruppe (ca. 21 %) in Nigeria darstellen. Das Wort „Ibeji“ bedeutet übersetzt „Zwilling“. Die Geburt von Zwillingen wird bei den Yoruba als gutes Zeichen angesehen. Man ehrt diese Kinder, da man glaubt, dass mächtige Geister bzw. Seelen in ihren Körpern leben. Für eine Familie beginnt damit – wenn es nach dem Volksglauben geht – eine Zeit des Glücks und Wohnstandes.[1]

Abb. 3

Für als Zwillinge geborene Kinder gibt es eigene Bezeichnungen bei den Yoruba. Der Begriff für den ersten Zwilling lautet „taiwo“, was übersetzt so viel heißt wie „die Welt kosten“. Der oder die Zweitgeborene wird mit „kehinde“ bezeichnet, das „nach einer Person kommend“ bedeutet. Es existiert die Vorstellung, dass der zweitgeborene Zwilling aber der ältere ist, der nur den Erstgeborenen als Kundschafter vorschickt. Man spricht den Zwillingen auch unterschiedliche Charaktereigenschaften zu. So wird „taiwo“ als lebenslustig, mutig und redegewandt bezeichnet, während „kehinde“ eher introvertiert, ruhig und nachdenklich sein soll.[2]

Abb. 4

Der Tod eines Kindes ist ohne Frage das Schlimmste, das Eltern widerfahren kann. Doch wenn ein Zwilling bei den Yoruba gestorben war, dann galt dies als unglaublich großes Unglück. Man glaubt nämlich, dass der oder die Verstorbene ins Diesseits zurückkehrt, um den anderen Zwilling zu sich zu holen. Im Volksglauben existieren verschiedene Gründe dafür. Eine Version lautet, dass Zwillinge eine gemeinsame Seele besitzen, die auf zwei Körper aufgeteilt ist. Ein anderer Gedanke ist, dass sich der verstorbene Zwilling ohne seinen Bruder oder Schwester alleine fühlt. Aus diesem Grund wird nach dem Tod eines Zwillings eine Ibeji Figur angefertigt, die als Stellvertreter dient. Die Holzstatue wird gefüttert, gekleidet und umsorgt, als wäre es ein lebendiges Kind. Jener Seelenteil des verschiedenen Zwillings existiert im Ibeji weiter und nimmt Teil am Familienleben. So verhindert man, dass der noch lebende Zwilling vom verstorbenen ins Jenseits entführt wird.[3]

Generell ist anzumerken, dass bei der Ethnie der Yoruba oft Zwillingsgeburten auftreten. Dennoch sind die Ibeji-Figuren eine der häufigsten Skulpturen aus dieser Region Afrikas. Aus diesem Grund tendieren manche ForscherInnen zu der Annahme, dass nicht bei dem Tod eines Zwillings, sondern bei dem Verlust eines Kindes generell eine solche Stellvertreterfigur hergestellt wird.[4]

Obwohl der Brauch der Ibeji Figuren aus dem Volksglauben der Yoruba stammt, gibt es einen Zusammenhang mit der Götterwelt dieser Ethnie. Man kennt einen Gott namens Ibeji, der als Gottheit der Zwillinge gilt.[5]

Die Bedeutung von Zwillingen bei anderen Ethnien in Afrika

Betrachtet man die Glaubensvorstellungen von afrikanischen Ethnien, so trifft man häufig auf das Thema „Zwillinge“. Doch nicht immer ist die Geburt von zwei oder mehr Kindern mit Glück und Segen verbunden. Hier gibt es unterschiedliche Vorstellungen im Volksglauben der einzelnen Ethnien. So sieht man Zwillinge teilweise auch als Belastung – vor allem für die Mutter. Bei der Ethnie der Kpelle hat man vor Zwillingen eher Angst, da sie als mächtige Wesen gelten, deren Zauberkraft sogar jene von Heilern übersteigt. Andere Ethnien in Nigeria haben so große Furcht vor Zwillingen, dass die Neugeborenen manchmal sogar ausgesetzt werden.[6]

In der Schell Collection trifft man noch ein zweites Mal auf afrikanische Objekte, die im Zusammenhang mit Zwillingen stehen. Im 3. Stock der Ausstellung befinden sich schön geschnitzte Holzschlösser der Ethnie der Dogon. Diese besteht aus rund 400.000 Personen und siedelt im südlichen Teil von Mali. Genauer gesagt leben der Großteil der Dogon an den berühmten Bandiagara-Felsen. Die Ethnie blickt somit auf eine fast 900 Jahre alte Siedlungsgeschichte in diesem Gebiet zurück. Ursprünglich stammen die Dogon aus Burkina Faso, bevor sie im 14. Jh. nach Mali wanderten. Da die Geburt von Zwillingen bei den Dogon als gutes Omen angesehen wurde, findet man diese auf Objekten dargestellt. So auch auf einigen der Holzschlösser, die im Museum ausgestellt sind.[7]

Anderenorts – wie zum Beispiel in einer Region in Uganda – ehrt man vor allem die Mutter von Zwillingen mit folgender Begrüßung: „Willkommen, oh Mutter von Zwillingen.“[8]

Es existiert auch die Vorstellung, dass Zwillinge zwei verschiedene Väter haben. Einer ist sterblich, der andere göttlich. Damit gab es einen menschlichen Zwilling und einen göttlichen. Einen ähnlichen Mythos kennt man aus dem antiken Griechenland. Er handelt von den Zwillingen Kastor und Polydeukes (lat. Castor und Pollux). Eine Version erzählt, dass der Vater von Kastor der König von Sparta war. Polydeukes soll der der Sohn von dem Gott Zeus höchstpersönlich sein. Somit war ein Zwilling sterblich, der andere als Halbgott unsterblich.[9]

Bei der Ethnie der Gola in Liberia kennt man ebenfalls einen Mythos, der im Zusammenhang mit Zwillingen steht: Ein furchtbarer Krieg durchzog das Land. Ein Zwillingspaar stellt sich mutig diesem entgegen. Den Geschwistern gelang es den Krieg zu bändigen und festzuhalten. Leider – so erzählt der Mythos – ließen die Zwillinge den Übeltäter wieder fallen. Als der Krieg auf dem Boden aufschlug, zersplitterte er in 100 weitere Kriege. Jeder davon war ebenso furchtbar wie der ursprüngliche Krieg selbst.[10]

Dies waren nur einige Beispiele für die Vorstellungen aus dem Volksglauben verschiedener afrikanischer Ethnien zu dem Thema „Zwillinge“.

Die Ibeji Figuren sind nur ein interessanter und bemerkenswerter Brauch der Yoruba von vielen. Eventuell besteht in Zukunft die Möglichkeit weitere Riten und Glaubensvorstellungen im Zusammenhang mit Objekten der ethnologischen Sammlung in der Reihe „Objekt des Monats“ vorzustellen.

Text: Mag. Verena Lang

 

Literaturverzeichnis

Figuren Afrikas – Meisterwerke einer Privatsammlung. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 28. April bis 7. Juli 2002. Hrsg. Patricia Rochard. Boehringer Ingelheim – Ingelheim – 2002.

Hunger, Herbert: Lexikon der griechischen römischen Mythologie – Mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart. 6. erw. und erg. Aufl. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH – Reinbek bei Hamburg – 1974.

Knappert, Jan: Lexikon der afrikanischen Mythologie. Mythen, Sagen und Legenden von A-Z. Seehamer Verlag – Weyarn – 1997.

Leloup, Hélène: Dogon. Weltkulturerbe aus Afrika. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung. Bonn – 2011.

Owusu, Heike: Symbole Afrikas. 1. Aufl. Schirner Verlag – Darmstadt – 1998.

Schmidt, Johann-Karl: Dogon. Meisterwerke der Skulptur. Ausstellung der Galerie der Stadt Stuttgart.

Yoruba Plastiken aus der Privatsammlung Stoll (Stoll, Mareidi und Gert). Rosenheim – 1990.

 

Fotonachweise

Abb. 1-6: Schell Collection, Graz.

 

[1] Vgl. Figuren Afrikas, S. 29; Yoruba, S. 22.

[2] Vgl. Yoruba, S. 22.

[3] Vgl. Figuren Afrikas, S. 29; Owusu, S. 95; Yoruba, S. 22.

[4] Vgl. Yoruba, S. 22.

[5] Vgl. Figuren Afrikas, S. 29; Owusu, S. 95.

[6] Vgl. Knappert, S. 365f.

[7] Vgl. Leloup, S. 67; Schmidt, S. 9.

[8] Vgl. Ebda.

[9] Vgl. Hunger, S. 115; Knappert, S. 365f.

[10] Vgl. Knappert, S. 365f.