Russische Beinkästchen
Bei dem Objekt des Monats handelt es sich diesmal um eine ganze Objektgruppe. Russische Kästchen aus Bein stehen in diesem Monat im Rampenlicht. In der Schell Collection kann man 9 Stück dieser Meisterwerke der Schnitzkunst bestaunen. Sie alle stammen aus der Region Archangelsk in Russland und wurden vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hergestellt. Die Kästchen besitzen einen Korpus aus Nadelholz und sind außen vollständig mit geschnitzten, filigran durchbrochenen und teilweise gravierten oder bemalten Lamellen aus Bein verkleidet. Häufig wechseln sich die durchbrochenen mit den glatten bemalten Blättchen ab. Die durchbrochenen Lamellen sind häufig auch rot, grün oder golden hinterlegt oder grün und braun eingefärbt (Inv. Nr. 5217, 2047).[1]
Sehr verbreitet sind geschnitzte Rankenornamente und geometrische Muster, vor allem kreisförmige Muster waren sehr beliebt.[2] Für die Deckel der Kästchen sind zwei Formen bekannt, seit dem Ende des 17. Jahrhunderts fertigte man Kästchen mit flachem Deckel, die oft mit einer zentralen Szene versehen wurden. Die Kästchen mit den Inventarnummern 2047 und 3570 sind schöne Beispiele hierfür.
Später begann man kompliziertere Konstruktionen herzustellen und fertigte Deckel in Form einer abgestumpften Pyramide an. Da sie an ein Haus mit hohem Dach erinnern, wurden sie „Turmhäuschen“ genannt. Im hohen Deckel befand sich zusätzlich meist noch ein Fach zur Aufbewahrung kleinerer Gegenstände.[3] Typische Vertreter der Turmhäuschen sind die Kästchen 4713 und 7584.
Rind, Walross & Co – Bein & seine Eigenschaften
Elfenbein, oft als weißes Gold bezeichnet, hat eine lange Geschichte als Werkstoff für Gebrauchs- und Kunstobjekte. Heutzutage ein durchaus kontroverses Material, wurde es durch die Jahrhunderte hoch geschätzt und sogar mit Gold aufgewogen. Beim Elfenbein handelt es sich um die Stoßzähne von Elefant und Mammut. Die Stoßzähne sind die verlängerten Schneidezähne, sie sind an der Wurzel hohl und dünnwandig und die Spitze ist massiv. Elfenbein lässt sich durch seine Elastizität sehr gut bearbeiten und besitzt eine feine Maserung. Abhängig von Alter und Lebensweise des Tieres ist jedes Stück einzigartig. Die Krümmung des Zahns schränkt die Bearbeitungsmöglichkeiten ein, Form und Größe diktieren also welche Gegenstände gefertigt werden können.[4]
Unter Bein versteht man Zahn- und Beinmaterialien anderer Tiere, die gerne als Ersatz für Elfenbein verwendet wurden, da sie in bearbeitetem Zustand diesem sehr ähnlich sehen. Dazu zählen vor allem der Stoßzahn des Narwals, der lange Zeit als das Horn des Einhorns gehandelt wurde, die Hauer des Walrosses, das Zahnbein vom Nilpferd und die Zähne des Pottwals. Auch die Knochen großer Pflanzenfresser wie Rinder und Pferde wurden gerne verwendet.[5]
Unter den Beinmaterialien spielte Walrosszahn die bedeutendste Rolle und auch die meisten Beinkästchen aus der Schell Collection sind daraus gefertigt. Die hauerähnlichen oberen Eckzähne sind oval gebogen und bis zu zwei Drittel hohl. Walrosszahn ist härter als Elfenbein und hat eine feine Äderung, aber nicht dieselbe Maserung wie echtes Elfenbein. Insbesondere in Russland war es von großer Bedeutung, eine erste Blütezeit gab es in der Region Archangelsk bereits im 12. und dann erneut im 18. Jahrhundert. Das beliebte Rohmaterial wurde auch ins Inland gebracht, in vielen Moskauer Familien galten die Walrosshauer als kostbare Familienerbstücke. 1649 wurde der Handel damit zum kaiserlichen Monopol.[6]
Vom Dorf an den Zarenhof – Russische Beinschnitzkunst
Die Beinschnitzkunst hat in Russland eine lange Tradition und die Region Archangelsk, günstig gelegen an der Küste des Weißen Meeres und der Nördlichen Dwina, war eines der bedeutendsten Zentren. Ab dem 17. Jahrhundert entwickelte sich dort im Dörfchen Cholmogory das älteste Handwerkszentrum der russischen Beinschnitzerei. Waren es zu Beginn nur wenige Familien im Dorf, die Kämme und Betketten schnitzten, stieg die Zahl der Schnitzer und die Vielfalt ihrer Produkte bis ins 19. Jahrhundert. Dass sich die Beinschnitzkunst gerade hier entwickelte war kein Zufall, die Hafenstadt Archangelsk war das Handels- und Verwaltungszentrum der Nördlichen Region und die wertvollsten Beinsorten aus der Umgebung wurden dorthin gebracht. In der Region wurden Mammutbein und -stoßzähne gefunden und im Sommer war es üblich auf Walrossjagd zu gehen.[7] Zusätzlich gab es, wie Robert Sears in seiner „Illustrated Description of the Russian Empire“ erwähnt, eine ausgezeichnete Rinderpopulation die Katharina I. dort einführen ließ.[8]
Da für den Handel mit Bein eine besondere Erlaubnis des Zaren notwendig war, besaß die Schatzkammer eine große Menge an eingeführtem Elfenbein, Mammutstoßzähnen und von Jägern erbeuteten Walrossstoßzähnen. Die fähigsten Beinschnitzer aus Cholmogory, hier vor allem die Familie Scheschenin, wurden schließlich an den Hof des Zaren gerufen um dort in der Rüstkammer des Kremls zu arbeiten. Die Rüstkammer war damals eine Akademie der Künste mit verschiedenen Werkstätten. Während der Regierungszeit von Peter I. dem Großen fand das Kunsthandwerk dort seinen Höhepunkt. Im späten 17. Jahrhundert war die Beinschnitzerei keine reine Volkskunst mehr, sondern von Förderung und Geschmack des Hofes, sowie europäischen Künstlern, beeinflusst worden. Die Beinschnitzereien mit ihrer durchbrochenen Ornamentik entsprachen ganz dem erlesenen Geschmack des Hofes.[9]
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts musste die Beinschnitzerei eine Zeit lang gestoppt werden, da das Bein zum Schiffsbau benötigt wurde. Auch die Jagd auf Walrosse brachte nicht den erhofften Gewinn und wurde fast gänzlich eingestellt. Der Mangel an Rohmaterial hatte auch Einfluss auf die Beinschnitzerei in Cholmogory. Es wurden nun überwiegend kleine Gegenstände hergestellt. Man ging dazu über die Kästchen aus Holz zu fertigen und mit dünnen geschnitzten Lamellen aus Walrossstoßzähnen zu belegen. Auch die gebogene Form und Größe der Zähne trugen zur Entwicklung der Lamellentechnik bei. Die angebrachten Beinlamellen unterteilen die großen Flächen in kleine Drei- oder Vierecke, die die Konstruktion der Kästchen betonen.[10] So entwickelte sich der charakteristische Stil der Beinkästchen aus Cholmogory, den auch die Kästchen aus der Schell Collection aufweisen.
Die Beinschnitzerei war Arbeit der Männer und die Herstellungsverfahren wurden innerhalb der Familie weitergegeben. Jede Familie hatte ihren eigenen Stil. Dies könnte einer der Gründe sein, weshalb die Werke nicht signiert wurden. Jeder Meister kannte die Handschrift des anderen. Viele Beinschnitzer gingen nach Sankt Petersburg, wo sie durch die große Nachfrage schnell Geld verdienen konnten. Kunden hatten die Möglichkeit bereits fertige Stücke zu kaufen, oder nach bestehenden Mustern etwas Eigenes zu bestellen. Der Schnitzer Ossip Dudin veröffentlichte beispielsweise mehrere Jahre hintereinander eine Annonce in einer Sankt Petersburger Zeitung.[11] Dort heißt es, dass er „Aufträge für die Herstellung verschiedener Gegenstände aus Bein (Schachfiguren, Spielmarken, Tabakdosen, Knäufe, Messergriffe, Schatullen, Kästen)“[12] annimmt. Eine Spezialität des Geschäfts waren auch kleine Schreibschränke, die die Form großer Möbel imitierten. Ein Objekt aus der Schell Collection (Inv. Nr. 4700), in Form eines Sekretärs, stammt eventuell aus dem Geschäft von Dudin. Die Annonce illustriert auch, dass die russischen Beinerzeugnisse trotz ihrer Kunstfertigkeit sehr funktionell waren und selten als reine Zierstücke verwendet wurden.[13]
Vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stellten die Schnitzer in Cholmogory nach wie vor Objekte mit den traditionellen Formen und Ornamenten her, verwendeten aber statt der Walrosshauer häufiger Rinderknochen. Es kam auch zu einer Steigerung der Kunstfertigkeit bei der Herstellung von durchbrochenen Schnitzereien. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann schließlich der Niedergang der Beinschnitzerei.[14]
Herstellung und Technik – Die Kunst der Beinschnitzerei
Zur Bearbeitung von Bein und Elfenbein gibt es zwei Techniken – Schnitzen und Drechseln. Das Drechselhandwerk, hier wird das Material auf einer Drehbank bearbeitet, setzte sich in der Renaissance durch und fand seinen Höhepunkt im 17. Jahrhundert. Das Schnitzen ist die weitaus ältere Bearbeitungsform. Der Rohling wurde vor der eigentlichen Arbeit mit Meißel und Säge zerlegt. Um das Schnitzen zu erleichtern wurde das Material vorher angefeuchtet. Insgesamt ist die Bearbeitung der von Holz sehr ähnlich, wenn auch das Material wesentlich härter ist. Um das Bein sehr dünn schneiden zu können, waren spezielle Sägen notwendig und ein Schraubstock zur Befestigung des Werkstücks.[15] Für die eigentliche Schnitzerei besaß man ein „Behau- und Schabmesser, die Bestoß-, Horn- und Spitzfeile, den Hobel, die Hornraspel, verschiedenartige Bohrer und Stichel“[16]. Die beliebten kreisförmigen Ornamente wurden mit unterschiedlichen Fassonmeißeln geschnitzt.[17] Das Kästchen mit der Inventarnummer 7584 zeigt die typischen Rankenornamente aus Cholmogory.
Der Stichel, auch Ritzer genannt, wurde für eine weitere Technik der Bearbeitung verwendet, dem Gravieren. Gravuren wurden per Hand mit dem Stichel in die Oberfläche eingeritzt. Eine andere Methode war das Einätzen nach dem Vorbild der Radierung. Das Elfenbein oder Bein wurde mit einem Ätzgrund aus weißem Wachs, dem Gummiharz Mastix und Asphalt überzogen. Dann wurde die Zeichnung mit einer Graviernadel eingegraben. Mit einer Säure aus in Salpetersäure aufgelöstem Feinsilber ätzte man schließlich die Zeichnung ein, sie erscheint danach schwarz auf weißem Grund.[18]
Die geschnitzten, durchbrochen und häufig gravierten Lamellen wurden dann auf dem Holzkörper angebracht. Diese Technik war äußerst ökonomisch – man sparte nicht nur Material sondern auch Zeit. Um die Herstellungszeit zu verkürzen, wurden immer zwei Lamellen gleichzeitig bearbeitet und dann paarweise symmetrisch angebracht.[19] Das Kästchen mit der Inventarnummer 2047 zeigt diese Symmetrie besonders gut. Die zentrale Jagdszene ist auch ein schönes Beispiel für die Technik des Gravierens.
Inv.Nr. 2047, Maße: 20,5 x 16,5 x 5,5 cm
Inv.Nr. 3570, Maße: 21,2 x 15,9 x 5,5 cm
Inv.Nr. 4700, Maße: 16 x 9 x 11,5 cm
Inv.Nr. 4713, Maße: 17 x 11,5 x 11 cm
Inv.Nr. 5217, Maße: 18 x 15 x 20,5 cm
Inv.Nr. 7584, Maße: 18 x 13,5 x 12,5 cm
Text: Julia Pfisterer, BA
[1] Vgl. Martina Pall: Versperrbare Kostbarkeiten. Kästchen und Kabinette aus aller Welt. Graz 2006, S. 92-93; vgl. Natalya Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory. In: Wyschar, Natalya u.a.: Die nordrussische Beinschnitzerei (=Meisterwerke der Volkskunst Russlands). Moskau 2003, S. 7-15, hier: S. 10.
[2] Vgl. Ukhanova, I.N.: Russian Bone and Ivory Carvings of the 8th – 19th Centuries, The State Hermitage Museum,https://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/hermitage/explore/collections/master/sub/1254019483/?lng=en (Zugriff: 02.08.2017).
[3] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 8.
[4] Vgl. Vgl. Hegemann, Hans-Werner: Das Elfenbein in Kunst und Kultur Europas. Ein Überblick von der Antike bis zur Gegenwart. Mainz 1988, S. 9, 13.
[5] Vgl. Teresa Müller: Vom Zauber alten Elfenbeins. Freiburg im Breisgau 1985, S. 3-4; vgl. Eugen von Philippovich: Elfenbein. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber. München 1982, S. 11.
[6] Vgl. Müller, Vom Zauber alten Elfenbeins, S. 3; vgl. von Philippovich: Elfenbein, S. 11, 25; vgl. Hegemann: Elfenbein in Kunst und Kultur Europas, S. 15-17; Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 7.
[7] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 7.
[8] Vgl. Sears, Robert: An Illustrated Description of the Russian Empire. Embracing its Geographical Features, Political Divisions, Principal Cities and Towns, Population, Classes, Government, Resources, Commerce, Antiquities, Religion, Progress in Education, Literature, Art, and Science, Manners and Customs, Historic Summary, etc., from the Latest and most Authentic Sources. New York 1855, S. 82. Online verfügbar: https://archive.org/details/anillustratedde02seargoog (Zugriff 07.03.2017).
[9] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 8.
[10] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 9-10.
[11] Vgl. Ebd., S. 12-13.
[12] Ebd., S. 13.
[13] Vgl. Ebd. S. 10.
[14] Vgl. Ebd. S. 15.
[15] Vgl. Müller: Vom Zauber alten Elfenbeins, S.5-6 ; vgl. Hegemann: Elfenbein in Kunst und Kultur Europas, S. 21-22.
[16] Hegemann: Elfenbein in Kunst und Kultur Europas, S. 21.
[17] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 10.
[18] Vgl. Hegemann: Elfenbein in Kunst und Kultur Europas, S. 22.
[19] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 10
Russische Beinkästchen
Bei dem Objekt des Monats handelt es sich diesmal um eine ganze Objektgruppe. Russische Kästchen aus Bein stehen in diesem Monat im Rampenlicht. In der Schell Collection kann man 9 Stück dieser Meisterwerke der Schnitzkunst bestaunen. Sie alle stammen aus der Region Archangelsk in Russland und wurden vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hergestellt. Die Kästchen besitzen einen Korpus aus Nadelholz und sind außen vollständig mit geschnitzten, filigran durchbrochenen und teilweise gravierten oder bemalten Lamellen aus Bein verkleidet. Häufig wechseln sich die durchbrochenen mit den glatten bemalten Blättchen ab. Die durchbrochenen Lamellen sind häufig auch rot, grün oder golden hinterlegt oder grün und braun eingefärbt (Inv. Nr. 5217, 2047).[1]
Sehr verbreitet sind geschnitzte Rankenornamente und geometrische Muster, vor allem kreisförmige Muster waren sehr beliebt.[2] Für die Deckel der Kästchen sind zwei Formen bekannt, seit dem Ende des 17. Jahrhunderts fertigte man Kästchen mit flachem Deckel, die oft mit einer zentralen Szene versehen wurden. Die Kästchen mit den Inventarnummern 2047 und 3570 sind schöne Beispiele hierfür.
Später begann man kompliziertere Konstruktionen herzustellen und fertigte Deckel in Form einer abgestumpften Pyramide an. Da sie an ein Haus mit hohem Dach erinnern, wurden sie „Turmhäuschen“ genannt. Im hohen Deckel befand sich zusätzlich meist noch ein Fach zur Aufbewahrung kleinerer Gegenstände.[3] Typische Vertreter der Turmhäuschen sind die Kästchen 4713 und 7584.
Rind, Walross & Co – Bein & seine Eigenschaften
Elfenbein, oft als weißes Gold bezeichnet, hat eine lange Geschichte als Werkstoff für Gebrauchs- und Kunstobjekte. Heutzutage ein durchaus kontroverses Material, wurde es durch die Jahrhunderte hoch geschätzt und sogar mit Gold aufgewogen. Beim Elfenbein handelt es sich um die Stoßzähne von Elefant und Mammut. Die Stoßzähne sind die verlängerten Schneidezähne, sie sind an der Wurzel hohl und dünnwandig und die Spitze ist massiv. Elfenbein lässt sich durch seine Elastizität sehr gut bearbeiten und besitzt eine feine Maserung. Abhängig von Alter und Lebensweise des Tieres ist jedes Stück einzigartig. Die Krümmung des Zahns schränkt die Bearbeitungsmöglichkeiten ein, Form und Größe diktieren also welche Gegenstände gefertigt werden können.[4]
Unter Bein versteht man Zahn- und Beinmaterialien anderer Tiere, die gerne als Ersatz für Elfenbein verwendet wurden, da sie in bearbeitetem Zustand diesem sehr ähnlich sehen. Dazu zählen vor allem der Stoßzahn des Narwals, der lange Zeit als das Horn des Einhorns gehandelt wurde, die Hauer des Walrosses, das Zahnbein vom Nilpferd und die Zähne des Pottwals. Auch die Knochen großer Pflanzenfresser wie Rinder und Pferde wurden gerne verwendet.[5]
Unter den Beinmaterialien spielte Walrosszahn die bedeutendste Rolle und auch die meisten Beinkästchen aus der Schell Collection sind daraus gefertigt. Die hauerähnlichen oberen Eckzähne sind oval gebogen und bis zu zwei Drittel hohl. Walrosszahn ist härter als Elfenbein und hat eine feine Äderung, aber nicht dieselbe Maserung wie echtes Elfenbein. Insbesondere in Russland war es von großer Bedeutung, eine erste Blütezeit gab es in der Region Archangelsk bereits im 12. und dann erneut im 18. Jahrhundert. Das beliebte Rohmaterial wurde auch ins Inland gebracht, in vielen Moskauer Familien galten die Walrosshauer als kostbare Familienerbstücke. 1649 wurde der Handel damit zum kaiserlichen Monopol.[6]
Vom Dorf an den Zarenhof – Russische Beinschnitzkunst
Die Beinschnitzkunst hat in Russland eine lange Tradition und die Region Archangelsk, günstig gelegen an der Küste des Weißen Meeres und der Nördlichen Dwina, war eines der bedeutendsten Zentren. Ab dem 17. Jahrhundert entwickelte sich dort im Dörfchen Cholmogory das älteste Handwerkszentrum der russischen Beinschnitzerei. Waren es zu Beginn nur wenige Familien im Dorf, die Kämme und Betketten schnitzten, stieg die Zahl der Schnitzer und die Vielfalt ihrer Produkte bis ins 19. Jahrhundert. Dass sich die Beinschnitzkunst gerade hier entwickelte war kein Zufall, die Hafenstadt Archangelsk war das Handels- und Verwaltungszentrum der Nördlichen Region und die wertvollsten Beinsorten aus der Umgebung wurden dorthin gebracht. In der Region wurden Mammutbein und -stoßzähne gefunden und im Sommer war es üblich auf Walrossjagd zu gehen.[7] Zusätzlich gab es, wie Robert Sears in seiner „Illustrated Description of the Russian Empire“ erwähnt, eine ausgezeichnete Rinderpopulation die Katharina I. dort einführen ließ.[8]
Da für den Handel mit Bein eine besondere Erlaubnis des Zaren notwendig war, besaß die Schatzkammer eine große Menge an eingeführtem Elfenbein, Mammutstoßzähnen und von Jägern erbeuteten Walrossstoßzähnen. Die fähigsten Beinschnitzer aus Cholmogory, hier vor allem die Familie Scheschenin, wurden schließlich an den Hof des Zaren gerufen um dort in der Rüstkammer des Kremls zu arbeiten. Die Rüstkammer war damals eine Akademie der Künste mit verschiedenen Werkstätten. Während der Regierungszeit von Peter I. dem Großen fand das Kunsthandwerk dort seinen Höhepunkt. Im späten 17. Jahrhundert war die Beinschnitzerei keine reine Volkskunst mehr, sondern von Förderung und Geschmack des Hofes, sowie europäischen Künstlern, beeinflusst worden. Die Beinschnitzereien mit ihrer durchbrochenen Ornamentik entsprachen ganz dem erlesenen Geschmack des Hofes.[9]
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts musste die Beinschnitzerei eine Zeit lang gestoppt werden, da das Bein zum Schiffsbau benötigt wurde. Auch die Jagd auf Walrosse brachte nicht den erhofften Gewinn und wurde fast gänzlich eingestellt. Der Mangel an Rohmaterial hatte auch Einfluss auf die Beinschnitzerei in Cholmogory. Es wurden nun überwiegend kleine Gegenstände hergestellt. Man ging dazu über die Kästchen aus Holz zu fertigen und mit dünnen geschnitzten Lamellen aus Walrossstoßzähnen zu belegen. Auch die gebogene Form und Größe der Zähne trugen zur Entwicklung der Lamellentechnik bei. Die angebrachten Beinlamellen unterteilen die großen Flächen in kleine Drei- oder Vierecke, die die Konstruktion der Kästchen betonen.[10] So entwickelte sich der charakteristische Stil der Beinkästchen aus Cholmogory, den auch die Kästchen aus der Schell Collection aufweisen.
Die Beinschnitzerei war Arbeit der Männer und die Herstellungsverfahren wurden innerhalb der Familie weitergegeben. Jede Familie hatte ihren eigenen Stil. Dies könnte einer der Gründe sein, weshalb die Werke nicht signiert wurden. Jeder Meister kannte die Handschrift des anderen. Viele Beinschnitzer gingen nach Sankt Petersburg, wo sie durch die große Nachfrage schnell Geld verdienen konnten. Kunden hatten die Möglichkeit bereits fertige Stücke zu kaufen, oder nach bestehenden Mustern etwas Eigenes zu bestellen. Der Schnitzer Ossip Dudin veröffentlichte beispielsweise mehrere Jahre hintereinander eine Annonce in einer Sankt Petersburger Zeitung.[11] Dort heißt es, dass er „Aufträge für die Herstellung verschiedener Gegenstände aus Bein (Schachfiguren, Spielmarken, Tabakdosen, Knäufe, Messergriffe, Schatullen, Kästen)“[12] annimmt. Eine Spezialität des Geschäfts waren auch kleine Schreibschränke, die die Form großer Möbel imitierten. Ein Objekt aus der Schell Collection (Inv. Nr. 4700), in Form eines Sekretärs, stammt eventuell aus dem Geschäft von Dudin. Die Annonce illustriert auch, dass die russischen Beinerzeugnisse trotz ihrer Kunstfertigkeit sehr funktionell waren und selten als reine Zierstücke verwendet wurden.[13]
Vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stellten die Schnitzer in Cholmogory nach wie vor Objekte mit den traditionellen Formen und Ornamenten her, verwendeten aber statt der Walrosshauer häufiger Rinderknochen. Es kam auch zu einer Steigerung der Kunstfertigkeit bei der Herstellung von durchbrochenen Schnitzereien. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann schließlich der Niedergang der Beinschnitzerei.[14]
Herstellung und Technik – Die Kunst der Beinschnitzerei
Zur Bearbeitung von Bein und Elfenbein gibt es zwei Techniken – Schnitzen und Drechseln. Das Drechselhandwerk, hier wird das Material auf einer Drehbank bearbeitet, setzte sich in der Renaissance durch und fand seinen Höhepunkt im 17. Jahrhundert. Das Schnitzen ist die weitaus ältere Bearbeitungsform. Der Rohling wurde vor der eigentlichen Arbeit mit Meißel und Säge zerlegt. Um das Schnitzen zu erleichtern wurde das Material vorher angefeuchtet. Insgesamt ist die Bearbeitung der von Holz sehr ähnlich, wenn auch das Material wesentlich härter ist. Um das Bein sehr dünn schneiden zu können, waren spezielle Sägen notwendig und ein Schraubstock zur Befestigung des Werkstücks.[15] Für die eigentliche Schnitzerei besaß man ein „Behau- und Schabmesser, die Bestoß-, Horn- und Spitzfeile, den Hobel, die Hornraspel, verschiedenartige Bohrer und Stichel“[16]. Die beliebten kreisförmigen Ornamente wurden mit unterschiedlichen Fassonmeißeln geschnitzt.[17] Das Kästchen mit der Inventarnummer 7584 zeigt die typischen Rankenornamente aus Cholmogory.
Der Stichel, auch Ritzer genannt, wurde für eine weitere Technik der Bearbeitung verwendet, dem Gravieren. Gravuren wurden per Hand mit dem Stichel in die Oberfläche eingeritzt. Eine andere Methode war das Einätzen nach dem Vorbild der Radierung. Das Elfenbein oder Bein wurde mit einem Ätzgrund aus weißem Wachs, dem Gummiharz Mastix und Asphalt überzogen. Dann wurde die Zeichnung mit einer Graviernadel eingegraben. Mit einer Säure aus in Salpetersäure aufgelöstem Feinsilber ätzte man schließlich die Zeichnung ein, sie erscheint danach schwarz auf weißem Grund.[18]
Die geschnitzten, durchbrochen und häufig gravierten Lamellen wurden dann auf dem Holzkörper angebracht. Diese Technik war äußerst ökonomisch – man sparte nicht nur Material sondern auch Zeit. Um die Herstellungszeit zu verkürzen, wurden immer zwei Lamellen gleichzeitig bearbeitet und dann paarweise symmetrisch angebracht.[19] Das Kästchen mit der Inventarnummer 2047 zeigt diese Symmetrie besonders gut. Die zentrale Jagdszene ist auch ein schönes Beispiel für die Technik des Gravierens.
Inv.Nr. 2047, Maße: 20,5 x 16,5 x 5,5 cm
Inv.Nr. 3570, Maße: 21,2 x 15,9 x 5,5 cm
Inv.Nr. 4700, Maße: 16 x 9 x 11,5 cm
Inv.Nr. 4713, Maße: 17 x 11,5 x 11 cm
Inv.Nr. 5217, Maße: 18 x 15 x 20,5 cm
Inv.Nr. 7584, Maße: 18 x 13,5 x 12,5 cm
Text: Julia Pfisterer, BA
[1] Vgl. Martina Pall: Versperrbare Kostbarkeiten. Kästchen und Kabinette aus aller Welt. Graz 2006, S. 92-93; vgl. Natalya Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory. In: Wyschar, Natalya u.a.: Die nordrussische Beinschnitzerei (=Meisterwerke der Volkskunst Russlands). Moskau 2003, S. 7-15, hier: S. 10.
[2] Vgl. Ukhanova, I.N.: Russian Bone and Ivory Carvings of the 8th – 19th Centuries, The State Hermitage Museum,https://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/hermitage/explore/collections/master/sub/1254019483/?lng=en (Zugriff: 02.08.2017).
[3] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 8.
[4] Vgl. Vgl. Hegemann, Hans-Werner: Das Elfenbein in Kunst und Kultur Europas. Ein Überblick von der Antike bis zur Gegenwart. Mainz 1988, S. 9, 13.
[5] Vgl. Teresa Müller: Vom Zauber alten Elfenbeins. Freiburg im Breisgau 1985, S. 3-4; vgl. Eugen von Philippovich: Elfenbein. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber. München 1982, S. 11.
[6] Vgl. Müller, Vom Zauber alten Elfenbeins, S. 3; vgl. von Philippovich: Elfenbein, S. 11, 25; vgl. Hegemann: Elfenbein in Kunst und Kultur Europas, S. 15-17; Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 7.
[7] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 7.
[8] Vgl. Sears, Robert: An Illustrated Description of the Russian Empire. Embracing its Geographical Features, Political Divisions, Principal Cities and Towns, Population, Classes, Government, Resources, Commerce, Antiquities, Religion, Progress in Education, Literature, Art, and Science, Manners and Customs, Historic Summary, etc., from the Latest and most Authentic Sources. New York 1855, S. 82. Online verfügbar: https://archive.org/details/anillustratedde02seargoog (Zugriff 07.03.2017).
[9] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 8.
[10] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 9-10.
[11] Vgl. Ebd., S. 12-13.
[12] Ebd., S. 13.
[13] Vgl. Ebd. S. 10.
[14] Vgl. Ebd. S. 15.
[15] Vgl. Müller: Vom Zauber alten Elfenbeins, S.5-6 ; vgl. Hegemann: Elfenbein in Kunst und Kultur Europas, S. 21-22.
[16] Hegemann: Elfenbein in Kunst und Kultur Europas, S. 21.
[17] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 10.
[18] Vgl. Hegemann: Elfenbein in Kunst und Kultur Europas, S. 22.
[19] Vgl. Wyschar: Die Beinschnitzerei von Cholmogory, S. 10